Es gibt Kompositionen, denen man sich nicht mehr ohne ein Wort der Erklärung nähern kann, Kompositionen, die bis zu einem bestimmten Datum ein ganz „normales“ Leben im Konzertsaal führten. Die 1854 fertiggestellte sinfonische Dichtung „Les Préludes“ von Franz Liszt gehört zu diesen Werken. Sie ist plötzlich politisch enteignet und dadurch in einen neuen Zusammenhang gestellt und korrumpiert worden. Das war 1941, als die Nazis in Deutschland ein akustisches Signal für Wehrmachtsmeldungen im Krieg gegen die Sowjetunion brauchten. Während also die Deutschen Leningrad belagerten, zu dessen Drama Schostakowitsch seine Siebte Sinfonie schrieb, bekamen die Deutschen in der Heimat am „Volksempfänger“ mit einer Passage aus Liszt „Les Préludes“, der „Rußland-Fanfare“ wie man sie auch nannte, „Erfolgsmeldungen“ von einem vermeintlich „siegbaren“ Krieg. Dessen einziges Ziel bestand darin, zu erobern und zu vernichten. In dieser Angelegenheit soll ein Zeitzeuge zitiert werden, dessen eindrücklichen Erfahrungen einen Schimmer vom Leid und Elend dieses Krieges geben können: Der deutsche Soldat Robert Rupp schreibt an seine Frau, 22.11.1941: „Sehr selten hab ich geweint. Weinen ist ein Ausweg, solange man in den Dingen steht. … Hier hat auch vor den traurigsten Bildern das Weinen keinen Sinn, und das »Mitleid« ist gemein, wenn es an die Stelle von Hilfe und Tat tritt. Es wächst das Gefühl der menschlichen Armut und der menschheitlichen Schuld, die in jedem Einzelnen wurzelt. Eine tiefe Scham wächst. Manchmal schäme ich mich sogar, geliebt zu werden.“ Die Lisztsche Fanfare erklang bis zum völligen Absturz und verkündete auch noch „Erfolge“, als diese schon längst in Depression und Niederlage sich verwandelt hatten.
Wie konnte aber gerade die Fanfare aus Liszts „Les Préludes“ so enteignet werden? Liszt hat seiner sinfonischen Dichtung ein paar Verse vorangestellt, die eine Erklärung liefern könnten: „Dennoch trägt der Mann nicht lang die wohlige Ruhe inmitten besänftigender Naturstimmungen, und »wenn der Drommete Sturmsignal« ertönt, eilt er, wie immer der Krieg heißen möge, der ihn in die Reihe der Streitenden ruft, auf den gefahrvollsten Posten, um im Gedränge des Kampfes wieder zum ganzen Bewusstwerden seiner selbst und in den vollen Besitz seiner Kraft zu kommen“ (Übersetzung Peter Cornelius). So hat man wohl in der Fanfare eben jenes Sturmsignal sehen wollen. Ein Signal, das in seiner musikalischen Behandlung zudem deutlich an die Tannhäuser-Ouvertüre von Richard Wagner, dem nazistischen Aushängekomponisten, erinnert.
Aber, um es klar heraus zu sagen, Liszt ist mit keinem Wort und keinem Ton explizit als ein als Vordenker der nazistischen Ideologie hervorgetreten. Im Gegenteil: Der Mißbrauch durch die nazistische Propaganda wird evident durch eine Auslassung. Denn der Lisztsche Kommentar beginnt mit folgenden Worten: „Was anderes ist unser Leben, als eine Reihenfolge von Präludien zu jenem unbekannten Gesang, dessen erste und feierliche Note der Tod anstimmt?“ Was denn anderes war dieser Deutsche Krieg!
Was also hat es mit „Les Préludes“ musikalisch auf sich? Liszt hat mit seinen sinfonischen Dichtungen eine neue musikalische Gattung ins Leben gerufen, deren Eigenart merkwürdig unbestimmt geblieben ist. So handelt es sich weder um eine Spielart von Programmusik, noch um „absolute Musik“, die sich bloß als Folge musikalisch-logischer Prozesse verstünde. Es ist eben keine „Symphonisierung“ von Dichtung. Bei „Les Préludes“ liefe eine solche Deutung vollkommen ins Leere, denn dieses Werk war zunächst (1848) als Einleitung zum unvollendeten Chorwerk „Le Quatre Éléments“ gedacht. Erst nachträglich wurde der Kommentar, der teilweise schon zitiert wurde, dem Stück vorangestellt. Daß ein Kommentar zu Musik unter Umständen notwendig sei, begründete Liszt schon früher (1837): „Für das Verständnis aller Einzelheiten ist nach unserer Ansicht der ausschließliche musikalische Gedanke, so vollständig er an sich ist, nicht ausreichend.“ Die sinfonische Dichtung im Sinne Liszts ist aber keinesfalls eine Form von Programmusik mit „Handlung“, keine Erzählung mit Musik in Form von handelden Subjekten. Der Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus erklärte Liszts Vorhaben so: „Für die symphonische Dichtung, wie Liszt sie verstand, war jedoch der erklärende Text, das in Worte gefaßte Programm, ein durchaus sekundäres Moment. Als einzig entscheidend empfand Liszt die Bestimmtheit des Ausdrucks, die Prägnanz, mit der die Musik ihren Gegenstand der Phantasie und dem Gefühl vermittelte.“ Auch bei „Les Préludes“ hat man es mit einer musikalisch-poetischen Ideensubstanz zu tun, die nicht abbildet (pittoreske Musik) als vielmehr durch prägnante musikalische Ausdrucksformen Assoziationfelder über die autonome innermusikalische Logik zu legen.
„Les Préludes“ zeichnet sich durch die Verbindung zweier Strukturmomente aus: Es ist einerseits ein in sich geschlossenes musikalisches Gebilde, in dem thematisch-motivische Arbeit formalen Zusammenhang garantiert. Und zugleich liegt über dieser Logik die Absicht, den thematischen Teilen prägnante Ausdrucksformen zuzuordnen, an denen sich die assoziative Phantasie der Zuhörer entzünden kann.
Formal schreibt Liszt mit „Les Préludes“ nicht weniger als eine mehrsätzige Symphonie in einem Satz: Man findet zunächst eine langsame Einleitung, eine kraftvolle Fanfarenidee (C-Dur), später einen lyrischen Kontrastteil (E-Dur), danach ein leichtes Pastoralenstück und schließlich wieder die Reprise der Fanfarenidee im Rahmen eines „Allegro marziale“. Zusammengebunden werden die formalen Ideen durch die Verwendung eines zentralen rhyhmisch-melodischen Motivs, bestehend aus nur drei Tönen. Und hierin liegt ein musikalischer Schlüssel zum Verständnis dieses Werks. (Ein anderer liegt in den überall wiederkehrenden Akkordbrechnungen, mögen sie nun Bestandteil des thematischen Materials sein oder „nur“ in klanglicher Funktion in den Begleitstimmen auftauchen. Beide Grundelemente exponiert die Einleitung.)
Das dreitönige Motiv wird in der Einleitung sofort nach den das Stück eröffnenden zwei Pizzicato-Klängen eingeführt. Es ist charakterisiert durch einen punktierten Rhythmus und seinen melodischen Verlauf, der häufig auf die Terz oder den Grundton eines Akkordes zielt. Wenn dann der Fanfarenteil erklingt, wird dieses Motiv als Kopfmotiv verwendet. Der Fanfarenteil wird sodann lyrisch transformiert (aus dem 4/4-Takt wird ein fließender 9/8-Takt). Das Motiv wandert vom Kopf des Themas in dessen melodisches Zentrum und bleibt auch in den Nebenstimmen präsent.
Es folgt der Seitensatz (Thema in den Hörnern), der nun in dem farblich kontrastierenden E-Dur steht (gegenüber dem C-Dur des Hauptsatzes). Hier wird das zentrale Motiv erst langsam in seine ursprüngliche melodische Gestalt überführt. Zugleich zieht der Teil die rhythmische Summe der vorangegangenen Satzelemente: Durch die triolische Themengestalt verschmelzen ein 12/8- und der 4/4-Takt.
Danach folgt ein Teil, der als Durchführung aufgefaßt werden kann. Er beginnt mit dem Hauptmotiv, das über chromatische Skalen wie im Klangrausch durch die Register zieht, ehe ganz deutlich das Fanfaren-Thema wieder einsetzt, jetzt aber melodisch eingeebnet. Am Schluß dieser Durchführung herrscht die lyrische Version des Fanfaren-Themas vor.
Der anschließende Teil führt einen neuen Ton ein: eine Pastoralentonfall, der nicht nur rhythmisch-melodisch evident ist, sondern auch durch die Instrumentation, die das Melos den Holzbläsern plus Horn übergibt. Das Hauptmotiv wird weiter an das Ende des thematischen Gedankens, in den Nachsatz verschoben. Die Neuheit der Pastorale, und das zeigt Liszts Synthesedenken, wird später mit dem „alten“ Material des Seitensatz verkoppelt, das heißt zugleich wie im Quodlibet gebracht, wobei beide thematischen Gedanken ihre Gleichwertigkeit durch den Wechsel von Ober- und Unterstimme unterstreichen. Das alles wird langsam dramatisiert und mündet in das „Allegro marziale“: Was zu Beginn einmal lyrische Umformung des Fanfaren-Themas war (9/8-Takt) wird nun brachial auf einen scharf betonten kräftigen 4/4-Takt umgebogen. Das Ende von „Les Préludes“ steht abermals das Fanfaren-Thema.
Quelle: 1997 für ein Programmheft des Philharmonischen Orchesters Hamburg geschrieben.