Der Komponist Karol Szymanowski hat sich lange Zeit auf den internationalen Konzertpodien nicht etablieren können. Eine Ursache dafür liegt vermutlich in dem wenig Handgreiflichen seiner Musik, ihrer stilistischen Vielsprachigkeit. Sie ist ein Spiegelbild seiner biographischen Heimatlosigkeit. Der Pole Szymanowski entstammt dem polnischen Landadelsgeschlecht, das sich gewissermaßen im dem allerhintersten Winkel Polens niederließ: Sein Geburtsort, Tymoschówka, liegt tief in der Ukraine, südlich noch von Kiew. Polen, ein Land, das damals als nationalstaatliches Gebilde überhaupt nicht existierte, wurde damals nicht seine musikalische Heimat: Das Musikleben Warschaus war nicht sonderlich auf- und anregend, das Publikum apathisch und konservativ. So macht auch Szymanowskis Musik einen Spreizschritt. Seine Musik ist einerseits von der „osteuropäischen“ Musikkultur (Chopin, Skriabin), andererseits von der „deutsch-westeuropäischen“ Musikkultur (Wagner, Strauss, Reger) geprägt. Kennzeichnend für die frühen Werke ist daher kaum zufällig eine harmonische Wollust, gepaart mit monumentalen Orchestersätzen. Seine Erste Symphonie nannte er ein „kp.-harmonisch-orchestrales Monstrum“. Er hat gerade den Anschein, als wollte zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Musik des Abendlandes mit einem tumultösen Aufmarsch, das 19. Jahrhundert in die moderne Zeit der Elektrizität, des Fernfunks und der Aeroplane hinüberretten. Szymanowski wurde damals in Polen nicht glücklich und übersiedelte nach Wien, wo er von 1910 bis 1914 lebte. Hier machte er Bekanntschaft mit der Musik Debussys und Ravels, mit einer Musik, deren poetische Struktur weniger schwer, akademisch-kritisch, spätromantisch-tiefbrünstig war; eine Musik auch, die „exotische“, orientalische Elemente sich zu eigen machte. Reisen führten Szymanowski nach Italien (1909), Sizilien (1910) und nach Nordafrika (1914). Dadurch erweiterte sich der musikalische und geistige Gesichtskreis; Szymanowskis Musik gewann jetzt ihre ganz eigene Kontur und Originalität, sie wurde durchsichtiger, lichter und leichter – akademisches und pompöses verschwindet.
Szymanowskis dritte Symphonie entsteht genau in dem Zeitraum (1914-1916), als er, durch die südeuropäischen Erfahrungen bereichert, in seine Heimatstadt Tymoschówka zurückkehrte. In der Abgeschiedenheit findet er seinen neuen Stil, abgeschieden übrigens auch von den Wirren des Ersten Weltkrieges; erst später 1917 kehrt die bittere Realität in Form der Russischen Revolution zurück, als der Wohnsitz der Szymanowskis in Schutt und Asche gelegt wird.
Der Text stammt aus der Feder des persischen Dichters Mawlana Dschalal-ad-din-Rumi. Rumi, ein persischer Dichter des 13.Jahrhunderts (1207-1273) gilt als Gründer des mystischen Ordens der Mewlewi, der sogenannten „tanzenden Derwische“. Das „Lied von der Nacht“ artikuliert eine solche mystische Erfahrung: Die Nacht wird der Macht des Schlafes entrissen und offenbart sich als ein Spiel der Sterne mit ihren mythischen Bedeutungen. Über all dem fühlt der Nächtig-Einsame zugleich das Glück der einzigartigen Konfrontation mit Gott: Ort des Glücks und der Wahrheit. Demgegenüber ist das Weltliche das Unvollkommene, das „Verstimmte“. Singulär ist darum auch die Erfahrung der Besonderheit dieser einen Nacht, die nicht einfach vorüber gehen darf.
Szymanowski erfindet zu dieser lyrischen, entrückten Melodie des Gedichtes eine Musik, die das „Schwebende“ des Nächtigverzückten nachbildet. Die Besetzung sieht ein Tenorsolo – alternativ Sopransolo –, sowie Chor und großes Orchester vor, wobei, wie der Komponist vermerkt, der Chor gegebenenfalls entfallen kann. Das Erstaunliche an Szymanowskis kompositorische Arbeit ist die zwanglose Koordination von motivisch orientierter Arbeit mit farbig schillernden „Accessoires“. Spannend gestaltet er den Wechsel von großorchestralen Tutti-Passagen mit lieblichen kammermusikalischen Inseln. Diese differenzierte Orchesterbehandlung ermöglicht eine ganz wunderbare Reaktion auf die Textvorlage. Ferner fällt die Bildung eigener sich unabhängig voneinander bewegender Melodiestimmen auf, man mag es „durchwobene Polymelodik“ nennen. Das funktioniert freilich nur in einem harmonischen Rahmen, der selten fixierte Zielpunkte als harmonische Grundlage erkennen läßt. Der Grundton der Dritten Symphonie oszilliert zwischen zwei Tönen, die das Intervall des Tritonus trennt. Das heißt, harmonisch steht das Stück auf einer schwebenden, indifferenten Grundlage. Der Bezug zur Harmonik Debussys und Skriabins ist unverkennbar.
Zu Beginn bietet ein dreitöniges fallendes Motiv (Schritt-Sprung; das Intervall des Tritonus ist zentral – Zeugnis der schwebenden, vagen harmonischen Struktur der Komposition) eine Orientierung, sequenziert gespielt von der Violine, später von Blechbläsern übernommen. Darunter liegt ein weicher unfixierter Grundklang. Mit diesen beiden Elementen erschafft Szymanowski die atmosphärische Grundstimmung für der ersten Teil der Komposition. Später tritt ein einfacheres melodisches Motiv zur Seite. Schließlich gipfelt der musikalische Prozeß im Fortissimo zu den Worten: „Gleich dem Adler flieg hinauf! Sieh zum Helden wird dein Geist diese Nacht.“
Es schließt sich ein Satz ohne Pause an, in dem koloristischen Elementen eine große Bedeutung zugemessen wird (mit Tambourin, Triangel und Becken). Hier liegt die kompositorische Betonung auf rhythmischen Motiven, deren Vorbild eher der Marschtypus, sozusagen orientalisch getanzt, abgeben mag.
Nach einer Generalpause setzt der letzte Teil mit den Worten des Tenors: „Wie still ist’s, alles schläft“ ein. Der Charakter dieses Teils erinnert wieder an den Anfang der Komposition. Auch hier sind die Höhepunkte durch den Text motiviert. „Wahrheit füllt mit lichtem Flügel diese Nacht“, und zum Ende: „Venus schwingt den goldnen Schleier diese Nacht!“). Schließlich verstummt das Stück plötzlich.
Die Uraufführung erfuhr diese Komposition am 24.12.1921 in London.
Quelle:Text für das Konzerthaus Wien 1996 (?).