21. November 2024 Guten Tag, everybody

Das Rauhe und das Glatte – Studien zur Ästhetik des Nicht-Perfekten

Musik Roscoe Mitchell an the Note Factory, Leola (Track 1) anderthalb Minuten stehenlassen dann unter dem Text weiterlaufen lassen

Autor: Wenn man dem Werbefernsehen glauben schenken will, dann ist sauber noch nicht rein. Es reicht für die Wäsche nicht mehr hin, weiß zu sein: sie muss weißer sein als weiß. Warum sollte sich ein solches Bewusstsein nicht auch in der Rezeption von Musik niederschlagen. Auf Hochglanz polierte Schallplattenaufnahmen, die genauso in ihrem Äußeren wie Inneren den musikalischen Strahlemann repräsentieren. Diese Ästhetik des Klinisch-Sauberen, des Perfekten und reproduzierbar Glatten, ist wohl eine Folge der gesteigerten technischen Möglichkeiten. Die Compact Disc, die selbst in absolut hochreinen, staubfreien Fabrikräumen hergestellt wird, ist das momentane Signum dieser Ästhetik.

Wie beinahe antiquiert muss das zu Beginn gehörte Stück „Leola“ von „Roscoe Mitchel And The Note Factory“ in diesem Zusammenhang erscheinen. Es gibt keine präzisen Instumentaleinsätze, der Intonation nach ist diese Musik einfach unsauber gespielt. Dabei handelt es sich durchweg bei den Musikern um Profis an ihren Instrumenten.

Musik Wie oben, Roscoe Mitchell (wieder aufblenden und eine Minute stehen lassen)

Autor: Musikalisch-technisch gesehen passiert hier eigentlich wenig: Abfallende Akkordbrechungen, zunächst einstimmig, später dann harmonisch in Akkorde aufgelöst. Die musikalischen Gesten deuten auf einen Trauerzug hin, „Richtig“ gespielt klänge diese Musik aber wohl doch einfach nur „falsch“. Warum dem so ist, das wird noch zu ergründen sein.

Musik Roscoe Mitchell erneut aufblenden für eine Minute, dann ausblenden

Autor: Ein weiteres Beispiel: Hanns Eisler singt seine Komposition „Anmut sparet nicht noch Mühe“, ein Stück das als Kinderhymne bekannt ist.

Musik Hanns Eisler, Anmut sparet nicht noch Mühe (komplett)

Autor: Der zum Zeitpunkt der Aufnahme an Asthmaproblemen leidende Hanns Eisler löst dieses Stück mit einer wunderschönen Naivität auf, obwohl oder zumal das Lied in seiner kompositorischen und interpretatorischen Phrasierung auf der Ästhetik des sogenannten Schönberg-Kreises beruht. Da wird zum Beispiel die aufsteigende Tonleiter-Linie auf „wie kein andres Land“ nicht emphatisch nach oben getrieben, sondern Ton für Ton dekliniert und am höchsten Punkt zurückgenommen. Zieht man einmal die durch das Asthma provozierten Atmer ab, so kennzeichnet sich die Eislersche Interpretation weiterhin durch ihren Charme, ein gewisses Lächeln, das man in der Tonfall hört. Diese Charakteristika werden für die musikalische Praxis sehr viel wichtiger als das „saubere“ oder „reine“ Intonieren. Das hört man im Vergleich zu einer Aufnahme mit einer „professionellen“ Sängerin.

Musik Hanns Eisler, Anmut sparet nicht noch Mühe (andere Aufnahme)

Autor: Wird die Kinderhymne nämlich wie ein klassisches Konzertlied aufgefasst, so stimmen zwar die Noten alle, aber ansonsten verfehlt man den Gehalt des Stücks komplett. Für Hanns Eisler liegt der Grund solchen Versagens darin, dass diese Interpreten die musikalischen Texte als abstrakte Kunstobjekte auffassen, als technisch zu objektivierende Aufgaben. Eisler hat für solche Interpretationen drastische Worte gefunden. In seinen Gesprächen mit Hans Bunge sagt er:

Zitat: Die Barbarei der musikalischen Interpretation ist erstaunlich. Ich bin bereit Ihnen Platten vorzuspielen von den berühmtesten Sängern um Ihnen nachzuweisen, daß das schlecht interpretiert ist.
… es ist erstaunlich, wie auch die Klassiker mißverstanden werden. Wie aus Schumann ein sentimentales Geschmalze wird, aus Schubert, dem höchst originellen, nervösen Komponisten, irgendeine Art von Unterhaltungsmusik wird – das ist ganz erstaunlich. Auch bei den besten Interpreten.

Autor: Für Eisler hat das Erfassen der gestischen Impulse, das Erfassen des Tonfalls Vorrang vor technischer Perfektion. Man könnte auch sagen, die technische Perfektion steht einer Interpretation der musikalischen Gestik geradezu im Wege.

Musik Franz Schubert: An die Musik, Version mit Phil Minton (ca. 3 Minuten)

Sprecher 1 Das ist keine im klassischen Sinn perfekte Interpretation. Es gibt hier weder den Schönklang eines in klassischem Gesang ausgebildeten Musikers, noch entspricht die Artikulation dem notierten Hochdeutsch. Phil Minton singt ein englisches Deutsch. Und doch: In dieser Interpretation wird eine im schönsten Sinne rührige Variante des Liedes gebracht. Es ist eine Huldigung sowohl an die Schubertsche Musik wie an die Musik selbst. Sie ist dies gerade auch deshalb, weil sie den Schönklang nicht erreichen kann aber dennoch die „holde Kunst“ in naiver Weise beschwört. Darum kann diese Interpretation besonders glaubhaft wirken. Natürlich gehört zu dieser Wirkung, dass die ein gewisses Maß an technischer Qualität unbedingt vorhanden sein muss. Auch das Nicht-Perfekte bedarf eines gewissen Grades an technischer Leistungsfähigkeit.

Der Sänger Phil Minton läßt seiner Stimme freien Lauf, versucht keinesfalls sie zu bändigen, um eine immergleiche oder wenigstens immerähnliche Interpretation zu erbringen. Dahinter steckt ein ganz anderer Anspruch als in der traditionellen Interpretation klassischer Musik, bei der man versucht die interpretatorische Gestaltung möglichst rein, genau und beliebig reproduzierbar auszuformulieren.
Auf einen anderen Aspekt hat der französische Philosoph Roland Barthes in seinem Aufsatz „Die Rauheit der Stimme“ hingewiesen.

Zitat: Wenn ich die ‘Rauheit’ einer Musik wahrnehme und dieser ‘Rauheit’ einen theoretischen Wert beimesse, so kann ich mir, da ich entschlossen bin, meine Beziehung zum Körper des Sängers oder Musikers zu hören, und da diese Beziehung erotisch ist, nur eine neue und ohne Zweifel individuelle, keineswegs jedoch ‘subjektive’ Wertetabelle erstellen. … ich höre mit Gewißheit – der Gewißheit des Körpers, der Wollust –, daß das Cembalo von Wanda Landowska aus ihrem Körperinneren kommt und nicht von dem kleinen Fingergestricke so vieler Cembalisten.

Autor: Roland Barthes verweist auf die Bedeutung der Körperlichkeit von Musik für die Klang- und Existenzform der Musik selbst. Genauso wenig wie der Tonfall erfasst wird, wenn man die Noten mechanisch oder klischeehaft abspielt steht der Körper oder Leib des Musikers in den Noten. Die Körperlichkeit muss also dem abstrakten und auf den ersten Blick so objektiven Notentext erst wieder entrissen werden.

Anders als in der sogenannten klassischen ernsten Musik, ist die Körperbeziehung im avancierten Jazz eine Grundvoraussetzung des Musizierens. Wenn man sich beispielsweise Auftritte des „Art Ensemble Of Chicago“ ansieht, dann stehen da nicht etwa in feinen Zwirn oder Frack verpackte Musiker, sondern bunte, bemalte Menschen, deren Aussehen eher an Zauberer oder Magiere erinnert, die ein Ritual zelebrieren. Auf diese Weise wird selbst aus einem Wiener Konzertsaal eine Art Kultstätte für musikalische Mythen. Auf der Platte „Urban Bushman“ spielen das „Art Ensemble of Chicago“ eine Art Trauermusik mit dem Titel „Uncle“, nachdem sie zuvor eine minutenlange Tonmeditation gestaltet haben. Im Trauermarsch geht es um emotionale Intensitäten, bei denen fast notwendig die körperhafte Reaktion die Beherrschung des Instruments beeinflusst.

Musik Art Ensemble of Chicago, Uncle (Trauermarsch, vorher die Meditation schon unter dem Text einblenden, dann den Marsch etwa drei Minuten stehen lassen und wieder unter den Text legen)

Autor: Im Jazz ist dieses Verhältnis zwischen Komposition und Interpretation viel leichter zu fassen, da die Interpreten in der Regel auch die Komponisten sind: Musikpraxis und Komposition geraten häufig zur Deckung. Dem gegenüber ist in der Entwicklung der traditionellen abendländischen Musik die Musikproduktion in eine sehr weit ausdifferenzierte Arbeitsteilung übergegangen. Von der Komposition bis zur Interpretation und schließlich dem Marketing hin professionalisieren und entsinnlichen sich die Agenten, die am Musikprozess beteiligt sind. Das hat zwar im technischen Bereich zu einer immer höheren Perfektion geführt. Roland Barthes sieht darin jedoch eine paradoxe Entwicklung:

Zitat: So „muß man hier in Erinnerung rufen, daß es heute unter dem Druck der Massenschallplatte eine Verflachung der Technik zu geben scheint; diese Verflachung ist paradox: alle Spielweisen werden in der Perfektion verflacht“

Autor: Das ist die Kehrseite der Rationalisierung zur Perfektion. Dieser Prozess ist erkauft durch eine Isolierung der einzelnen an dieser Produktionskette hängenden Personen. Man kann es so darstellen: Es gibt einen wesentlichen Unterschied, ob man die Produktionskette im Zusammenhang sieht und diese im gegenseitigen Einvernehmen perfektioniert, oder ob man die Einzel-Agenten der Kette unabhängig voneinander zu Einzel-Spezialisten macht. Die fortgeschrittene Arbeitsteiligkeit der abendländischen Kultur begründet sich im Wesentlichen aus der letzten Sichtweise . Der Soziologe Max Weber hat diese Form der Kulturentwickung zu Anfang des 20. Jahrhunderts kritisch beurteilt:

Zitat: Dann allerdings könnte für die ‘letzten Menschen’ dieser Kulturentwicklung das Wort zur Wahrheit werden: ‘Fachmenschen ohne Geist, Genußmenschen ohne Herz: dies Nichts bildet sich ein, eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu haben.’

Autor: Der musikalische Höhepunkt dieser Beschreibung dürfte wohl in der Chart-Popmusik zu finden sein. Das sind in der Regel auf Hochglanz polierte Musikproduktionen. Das „Glatte“ ist ihr eigentliches Metier. Allein vorregulierte und schablonisierte Gefühle kann und soll diese Musik auslösen. Leichte Konsumierbarkeit, die im wahrsten Sinne des Wortes durch das eine Ohr hinein und das andere hinaus geht. Nur auf diese Weise ist es schließlich möglich, dass ein Hit von einem anderen abgelöst werden kann. Die Rauheit dieser Musik muss gerade soweit langen, dass diese Musik sich so weit in den Gehörgängen und im Hirn verhakt, um den Wunsch nach Wiederholung hervorzurufen. Solche Musik darf auf keinen Fall so rauh sein, dass sich das Publikum dagegen absperrt. Doch gerade in der Absperrung vom gemeinen Publikum liegt die Qualität derjenigen Populärkunst, die sich als subversiv auszeichnet.

Musik Sensorama, zu gast auf der welcome insel (ventil mous on mars Track 4)

Autor: Der Absperrungsprozess war ein Kennzeichen der Punk-Bewegung und auch noch in der Tekkno-Szene ist dies der Fall gewesen. Beide Bewegungen sind für eine wirtschaftliche Ausbeutung wesentlich umgemodelt und geglättet worden. Die Tendenz zur publikumswirksamen Glätte kennt man übrigens auch in der klassischen ernsten Musik, die damit teilweise auch zur Popmusik wird.
Gegen diese Glattbügelung hat der russische Futurist Velimir Chlebnikov klare Worte gefunden. In einem Manifest fordert er von den Künstlern:

Zitat: Auf daß sperrig geschrieben und sperrig gelesen werde, unangenehmer als geschmierte Stiefel oder ein Lastwagen im Salon (Menge von Knoten Verknüpfungen und Maschen und Flicken Oberfläche mit Rissen Sprüngen, sehr rauh). (Velimir Chlebnikov)

Ein Blick auf die Vorstellungen gegenwärtiger Komponisten zeigt, dass man gerade diese Sperrigkeit zu vermeiden trachtet. Musik soll wieder eine brauchbare soziale Funktion haben, nicht esoterisch sich gebären. Deswegen ist es ganz interessant, dass Chlebnikov ausdrücklich den Leser mit einbezieht, der „sperrig“ lesen soll. Ein sperrig hörender Mensch wird solche Glattheit und solche funktionale Musik kaum akzeptieren und er wird sich, wie Eisler sagte, nicht für dumm verkaufen lassen.

Die bisher angeführten Texte und musikalischen Beispiele verweisen auf die ästhetische und gesellschaftliche Bedeutung des Rauhen. Man kann sogar soweit gehen, die geschichtliche Entwicklung innerhalb einer neuen theoretischen Konstruktion umzudeuten. Zu dieser These kommt jedenfalls Roland Barthes in seinem seinem Aufsatz „Die Rauheit der Stimme“:

Zitat: … es versteht sich jedoch von selbst, daß die bloße Berücksichtigung der musikalischen Rauheit eine andere Musikgeschichte als die, die wir kennen zur Folge haben könnte. (Velimir Chlebnikov)

Spuren dieser anderen Sicht auf musikgeschichtliche Prozesse sollen hier unter Beobachtung genommen werden. Bei diesen Betrachtungen werden vor allem Fragen nach Perfektion und Imperfektion eine wesentliche Rolle spielen. Das Nicht-Perfekte lässt sich allerdings wirklich schlecht darstellen. Der umgekehrte Weg ist viel verheißungsvoller. Wenn man begreift, was Perfektion heißen kann, wenn man quasi den Begriff der Perfektion gesellschaftlich dechiffriert, dann wird man im Gegenzug Elemente einer Ästhetik des Nichtperfekten ausmachen können.

Wo kann man eine von Roland Barthes geforderte andere Musikgeschichte besser beginnen lassen als an Ihrem Ende – also in der Zukunft

Es gibt eine Vision der perfekten Musik in der fast-perfekten Welt. Jewgenij Samjatin hat in seinem utopischen Roman „Wir“ aus dem Jahr 1920 eine Musik heraufbeschworen, die allein auf mathematischen Prinzipien beruht. Der Protagonist des Romans, er heißt gänzlich unprosaisch D-503, hat die Order erhalten, einen Vortrag im Auditorium 112 sich anzuhören.

Zitat: „Mit großer Mühe gelang es mir, mich wieder zu konzentrieren, als der Phonolektor bereits zum Hauptthema gekommen war, zu unserer Musik, zur mathematischen Komposition (die Mathematik ist die Ursache, die Musik die Wirkung), zur Erfindung des kürzlich erfundenen Musikometers.
„… Man dreht einfach an diesem Knopf und kann bis zu drei Sonaten in der Stunde komponieren. Welche Mühe machte das Ihren Vorfahren! Sie konnten nur dann schaffen, wenn sie sich in einen krankhaften Zustand, in ‚Begeisterung‘ versetzten, was nichts anderes ist als eine Form der Epilepsie. Ich gebe Ihnen jetzt ein äußerst komisches Beispiel von dem, was man damals zuwege brachte. Sie hören Musik von Skriabin, 20. Jahrhundert. Diesen schwazen Kasten“ – der Vorhang auf dem Podium teilte sich, wir sahen ein altmodisches Musikinstrument – „diesen Kasten nannte man damals Flügel, was wiederum beweist, wie sehr ihre ganze Musik …“
Was er dann sagte, habe ich vergessen, wohl deshalb weil … nun, ich will es offen gestehen, weil sie, I-330, zu dem schwarzen Kasten ging. Wahrscheinlich hatte mich ihr unerwartetes Erscheinen auf der Bühne verwirrt.
Sie trug ein seltsames Kostüm, wie es damals in Mode war, ein enganliegendes schwarzes Kleid; es betonte das Weiß der entblößten Schultern und Brüste und den warmen zuckenden Schatten dazwischen … und ihre blendend weißen, fast bösen Zähne…
Sie lächelte uns zu. Ein bleckendes, beißendes Lächeln. Dann setzte sie sich und begann zu spielen. Es klang exaltiert, wild und wirr, wie alles aus jener Zeit – bar der Vernunft des Mechanischen. Und alle, die hier saßen, hatten recht: sie lachten. Nur einige wenige … aber warum auch ich … ich?

Musik: Skriabin, ein Prelude. Unter dem Text einblenden Mindestens 1 Minute stehen lassen und dann unter dem Text bis zur nächsten Aufblendung weiterlaufen lassen

Zitat: Ja, die Epilepsie ist eine Geisteskrankheit, ein Schmerz… ein brennender, süßer Schmerz, wie ein Biß, und ich will, daß er tiefer in mich eindringt, daß ich ihn noch stärker spüre. Und da geht langsam die Sonne auf. Nicht unsere Sonne, die mit kristallblauem, gleichmäßigem Schein durch die gläsernen Wände dringt, nein, eine wilde, unaufhaltsam dahinjagende, alles versengende Sonne – nichts mehr bleibt von mir –, alles zerfällt in kleine Fetzen …
Die Nummer links von mir sah mich kichernd an. Ich kann mich noch deutlich erinnern, daß an seinen Lippen ein winziges Speichelbläschen hing und zerplatzte. Dieses Bläschen ernüchterte mich. Ich war wieder ich.
Wie die anderen hörte ich auch ich nur noch das wirre, tosende Rauschen der Saiten. Ich lachte, und alles war plötzlich so leicht und einfach. Was war geschehen? Nur dies: Der Phonolektor hatte jene unzivilisierte Epoche heraufbeschworen. Mit welchem Genuß lauschte ich dann unserer zeitgenössischen Musik (sie wurde zum Schluss als Kontrast gespielt). Die kristallenen chromatischen Tonleitern ineinander verschmelzender und sich wieder lösender unendlicher Reihen, die Akkorde der Formeln Taylors und MacLauriens, die schweren Ganztonschritte der quadratischen Pythagorashosen, die schwermütigen Melodien verebbender Schwingungsbewegungen… Welch erhabene Größe! Welch unerschütterliche Gesetzmäßigkeit! Wie kümmerlich wirkte dagegen die eigenwillige, sich nur in wilden Phantasien ergehende Musik unserer Vorfahren!“

Musik: Skriabin, das Prelude wieder aufblenden und liegen lassen unter dem Text

Autor: Nicht nur, dass Samjatin einen automatisierten Prozess des Komponierens vorwegnimmt, wie er heute teilweise mit Computern realisierbar ist, er nennt auch die Grundlage solchen Komponierens: die Mathematik. Diese Wissenschaft mochte Samjatin das Prinzip verkörpern, welches keine konkrete Beziehung zum Leben hat, eine rein formale Konstruktion, und darum auch frei von vergänglichen Gefühlen, frei von privater Subjektivität. Die Mathematik wird gewissermaßen zum universalen, zeitlosen und gesetzgebenden Grund für eine perfekte Gestaltung.

Dieser Universal-Musik stellt Samjatin in seinem Roman die Musik des frühen 20. Jahrhunderts gegenüber. Sie repräsentiert die Musik eines wirren Zeitalters. Beispielhaft wählt Samjatin eine Musik seiner Gegenwart aus: Klaviermusik von Alexander Skriabin.

Mit dem Hören dieser Musik beginnt zugleich die Katastrophe, es bildet sich bei dem Protagonisten des Romans eine Seele. Die „kümmerliche Musik“ Skriabins löst beim Protagonisten etwas aus. Einen schwachen Reiz zunächst, aber dann kommt es doch zu einer Produktion von Sinnlichkeit und zur Freilegung von Trieben, unterstützt von erotischen Bildern der Aufführungsumstände. Die Musik Skriabins und ihre Präsentation berühren den Protagonisten tiefer als die mechanische Logik einer durch Zahlenreihen konstruierten Perfektion. Er verspürt einen brennenden und süßen Schmerz. In der Welt des Romans sind derlei Zustände normalerweise geregelt. Sie heißen bei dort „Geschlechtstage.“

Zitat: Nachdem der Einzige Staat den Hunger besiegt hatte, führte er einen Krieg gegen den zweiten Beherrscher der Welt, die Liebe. Schließlich war auch dieser Feind geschlagen, das heißt, organisiert, mathematisch festgelegt, und vor rund 300 Jahren trat unsere Lex sexualis in Kraft. Jede Nummer hat ein Recht auf eine beliebige Nummer als Geschlechtspartner. Alles weitere war dann nur noch Technik. In den Laboratorien des Amtes für sexuelle Fragen wird man sorgfältig untersucht, der Gehalt an Geschlechtshormonen wird genau bestimmt, und dann erhält jeder eine seinen Bedürfnissen entsprechende Tabelle der Geschlechtstage und die Anweisung, sich an diesen Tagen der Nummer Soundso zu bedienen, und man händigt ihm zu diesem Zweck ein Heftchen mit rosa Billets aus.

Autor: Mit diesen rosa Billets erhält man zum Beispiel die Genehmigung, die Vorhänge in den aus durchsichtigem Glas gebauten Häusern herunterzulassen. Diese Welt ist prinzipiell gläsern. Denn wo von der Geburt bis zum Tod alles gesellschaftlich verordnet und biologisch sowie psychologisch kontrolliert ist, da ist – für alle unmittelbar einsichtig – alles richtig und niemand muss sich vor jemand anderem verstecken. Die Bedeutung der Geschlechtstage geht in der Kontrolle der Triebe auf. Triebe, die gerade mal 15 Minuten lang anhalten.

Zitat: Um 22 Uhr ließ ich die Vorhänge herunter, und da trat O auch schon ins Zimmer. Sie war ein wenig außer Atem und hielt mir ihr rosiges Mündchen und ihr rosa Billett hin. Ich riß den Talon ab – und dann …
Erst im letzten Augenblick, um 22.15 Uhr, löste ich mich von dem rosigen Mund.

Autor: Wie dann der Protagonist D-503 die Zeit nach dieser Viertelstunde beschreibt ist entlarvend. Wie als ob nichts gewesen ist, raucht er nach dem Geschlechtsgebrauch seine rationale Zigarette:

Zitat: Ich zeigte ihr meine Aufzeichnungen und sprach von der Schönheit des Quadrats, des Würfels und der Geraden, wobei ich mich exakt und gewählt ausdrückte. Sie hörte schweigend zu, und plötzlich tropften Tränen aus ihren blauen Augen und fielen auf mein Manuskript (Seite 7). Die Tinte färbte sich wasserblau und zerfloß. Ich muß die Seite also noch einmal schreiben.

Autor: Visionen von perfekten und gegenperfekten Gesellschaftsgebilden durchziehen die Geschichte der Menschheit. Manche erwarten die Erfüllung dieser Utopien im Diesseits, manche verlegen sie in ein räumlich und zeitlich unbekanntes Jenseits. Konstruktionen dieser Art tauchen als religiöse Heilserwartungen oder als wissenschaftliche Theorien auf. In der Literatur finden sich gerade im 20. Jahrhundert Verdrehungen solcher Perspektiven. Aldous Huxleys „Brave New World“ und George Orwells „1984″ sind Perversionen von perfekten Welten. Dabei ist eigentlich selten bekannt, welche Rolle die Musik in diesen Utopien spielt und ob es sie überhaupt noch gibt. Samjatin sagt: Ja, es gibt Musik; allerdings ist es eine mechanisch erzeugte, die sinnlich komplett leer ist oder zumindest auf sinnlich entleerte Individuen trifft. Eine musikalische Ausgestaltung von Musik in einer durch Gehirnwäsche befriedeten Welt hat Udo Lindenberg auf der Platte „Galaxo Gang“ augenzwinkernd entworfen. „Leute, die Welt ist prima, schön ist es auf der Welt“, singt dort der Musikroboter.

Musik Udo Lindenberg, Galaxo Gang

Autor: Lindenberg hat in diesem Song die Beziehung zwischen Gehirnwäsche und Triebsteuerung schlagend als musikalische Kälte und Leere thematisiert. Aber die musikalische Kälte hat ihren philosophischen und gesellschaftspolitischen Ursprung. Das Stichwort hierfür gibt der Begriff der „quadratischen Musik“ bei Samjatin.

Der Begriff des Quadrats steht für ein perfektes, in sich geschlossenes Gebilde; er steht für ein Höchstmaß an Ordnung, Struktur und Grenze. Der Grafiker Adrian Frutiger charakterisiert das „Quadrat“ in seinem Buch „Der Mensch und seine Zeichen“ so:

Zitat: „symbolisches Objekt, umgrenzte Liegenschaft, auch Wohnraum mit Empfindung von Boden, Decke, Wänden, Schutz etcetera. Im prähistorischen Sinne wurde damit die Erdoberfläche gemeint, gleichzeitig die vier Himmelsrichtungen angedeutet. In der chinesischen Vorstellungswelt galten die vier Ecken als die äußersten Punkte der Welt.“

Autor: Welche elementare Bedeutung das Quadrat hat, erkennt man auch daran, dass sich annähernd jedes geometrische Zeichen aus Quadraten zusammensetzen läßt. Und selbst noch der Versuch einer an sich unmöglichen „Quadratur des Kreises“ weist auf das Phänomen der Rationalisierungswunsches eines auf diese Weise Unberechenbaren hin.

Diese Denkweise hatte zu einer bestimmten geschichtlichen Stunde tatsächlich ein aufklärerisches Potential: im antiken Griechenland.

Der Vorsokratiker Pythagoras hat eine mathematische Theorie der Musik entwickelt, die zugleich mit dem Kosmos verknüpft ist. Es ist kein Zufall, dass sein Name in Samjatins Roman fällt wenn er von „quadratischen Pythagorashosen“ spricht. So steht die „quadratische Musik“ neben dem berühmten Satz des Pythagoras: „a-Quadrat plus b-Quadrat gleich c-Quadrat“. Das ist sicherlich kein Zufall. Aristoteles berichtet von den Phythagoreern in seiner Metaphysik:

Zitat: Alles Seiende ist, sagen sie, Abbild der Zahlen.

Autor: Die Musik gehört selbstverständlich auch zum Seienden. Darum wird auch sie mit mathematisch-rationalen Argumenten theoretisch gefasst. Dabei geht es gar nicht einmal um die erklingende Musik sondern allein um deren rationalisierbaren Grundlagen. Dort erkennen die Pythagoreer, dass sowohl der Lauf der Planeten wie die Intervalle der Musik als Zahlenverhältnisse darstellbar sind. Das heißt, man geht davon aus, dass auch die Welt im Großen wie im Kleinen von mathematischen Relationen bestimmt ist. Daher kann man zu dem Schluss gelangen, dass alles eine Bedeutung hat und einer perfekten stofflosen Idee folgt. Die ganze Welt wird durch die mathematische Begründung sinnvoll.

Die Welt der Zahlen eignet sich als Strukturprinzip deswegen so ausgezeichnet, weil Zahlen eine reine Abstraktion und ein Höchstmaß an Objektivität und Wertneutralität zu repräsentieren scheinen. Diese Idee war damals etwas grundsätzlich Neues. Während man die Welt zuvor nach stofflichen Elementen kategorisierte, bot die Zahlentheorie eine dahinter liegende Erklärung für die Organisation und Zusammensetzung der Welt.

Ein Kenner der antiken Philosophie, Wolfgang Schadewaldt, kommentiert das so:

Zitat: … so würden die Pythagoreer nicht mehr sagen: Alles ist Wasser oder Luft, sondern: Alles ist Zahl. Damit haben wir den Fortschritt von einem noch irgendwie Materiellen, wenn auch nicht in unserem Sinne Stofflichen, zu einem Formalen und Funktionalen, in dem nun der eigentliche Grund des Seienden gesucht wird. Damit ist im Prinzip die Wissenschaft der Mathematik begründet. Mit Pythagoras beginnt es, daß man die Mathematik nicht mehr als Mittel der Weltbewältigung betrachtet, sondern als reine Mathematik, eine Weise, wie das Phänomen von Verhältnissen, die in großer Fülle im Erfahrbaren vorliegen, nun an sich genommen und auf Prinzipielles zurückgeführt werden kann.

Autor: Bei Pythagoras wird die Wirkungsweise der Musik auf Menschen über die Mathematik rationalisiert. Es bedeutet, dass sich in der Musik, mathematische Verhältnisse repräsentieren. Unterschiedliche Zahlenverhältnisse ziehen unterschiedlich Wirkungsweisen nach sich. So lautet die Schlussfolgerung. Damit wird aber beschrieben, was damals als musikalische Realität wahrgenommen wurde. Musik war damals kein ästhetisches Phänomen, sondern eine funktionale Gebrauchsmusik. Sobald sich diese Vorstellung einer Zahlenmetaphysik ästhetisch äußert, ändert sich das. Diesen Weg kann man quer durch die Philosophiegeschichte und Musiktheorie hindurch verfolgen. Über die frühmittelalterliche Musiktheorie, Kepler und Schelling gelangt man direkt ins 20. Jahrhundert.
Eine perfekte Musik müsste in diesem Sinne eine sehr abstrakte, nach anderen denn nach subjektiven Vorstellungen konstruierte sein. Es mag sogar eine Musik sein, die gar nicht mehr erklingt, sondern eine Musik, die nur noch im Reich der Ideen und Vorstellungen verankert ist. Für diese musikalische Welt gibt es ein eindrucksvolles Zeugnis. Cesar Bresgen, der Anton Weberns späte kompositorische Arbeit beobachtete, schreibt:

Zitat: „… dennoch erinnere ich mich noch deutlich, daß er auf einer dürftigen Tischplatte wiederholt mit Bleistift und Zirkel tätig war, beschäftigt mit geometrischen Figuren oder Linien und Zeichen. Er erklärte mir auch einmal, daß es ihm nicht mehr darauf ankomme, sein Stück (durch Musiker gespielt) zu hören; das Werk töne ‘in sich’ – er selbst könne es durchaus hören, innerlich hören. Mit der graphischen Niederlegung, und sei es nur auf der bloßen Tischplatte, erachtete Webern die eigentliche Arbeit als vollzogen. ‘Der Klang ist ständig da’, sagte er, die Wiedergabe könne es gar nicht so vollkommen bringen. Mit anderen Worten: Webern lebte damals mehr und mehr in einer Vorstellungswelt von Tönen, die er – mir erscheint dies wichtig – nicht nur vorberechnete, sondern wirklich zu hören imstande war.“

Autor: Wie wahr oder unwahr dieser Bericht ist, das ist nicht entscheidend. Mit ihm wird ein Endpunkt möglicher musikalischer Gestaltung angedeutet. Dass bei Webern das abstrakte Zusammenwirken musikalischer Elementarteilchen eine herausragede Position einnimmt, zeigt sich am Ende seiner Vorträge mit dem Titel „Der Weg zur Komposition in zwölf Tönen“. Er beschießt sie mit dem lateinischen Spruch: „Sator arepo tenet opera rotas“. Ordnet man diese Worte untereinander an, so erhält man ein sogenanntes magisches Quadrat. Man kann diesen Spruch sowohl von oben nach unten, wie von unten nach oben lesen. Man kann ihn aber auch senkrecht von links nach rechts und von unten rechts nach links oben lesen. Immer wird er sich zu „sator arepo tenet opera rotas“ zusammensetzen. Maximale Ordnung und ein Höchstmaß an Fasslichkeit und Zusammenhang sind sein kompositorisches Ziel. Nicht als Selbstzweck, sondern für die klare Darstellung des musikalischen Gedankes.

Musik Webern op. 28 (Streichquartett) zweiter Satz

Autor: In Weberns Streichquartett wirkt die Konstruktion der Zwölftonreihe bis in die äußere Gestaltung hinein. Die zugrundeliegende Zwölftonreihe beruht auf dem Grundelement der vier Töne, die die Tonfolge b-a-c-h bildet. Als Gruppe von daraus kombinatorisch erzeugten weiteren zwei Viertongruppen ergibt sich die komplette Zwölftonreihe. Diese Mikrostruktur wird sowohl in die formale Gestaltung der Einzelsätze wie in deren Kombination hinausgedehnt. Das könnte auf den ersten Blick ähnlich wirken wie die Konstruktion der Musikmaschine in Samjatins Roman. „Man dreht einfach an dem Knopf und erhält in der Stunde bis zu drei Sonaten.“ Mal abgesehen davon, dass Webern in der Tat sehr viel länger an seinen Werken saß und dies keinesfalls auf den Mangel mathematischer Fähigkeiten zurückzuführen ist. Nein, bei Webern tritt eine mithörende und beurteilende Qualität hinzu, die die Maschine nicht kennt. Die Maschine hat keine Urteilskraft, Webern hat sie.

Das zeigt auch ein Blick in die frühen Stücke von Webern. In den Bagatellen für Streichquartett opus 9 sieht das Notenbild folgendermaßen aus: Es gibt kaum eine Note, die nicht bis ins kleinste hinein durch Spielanweisungen gekennzeichnet wäre. Anschwellen und Abschwellen von Tönen, Lautstärke, Artikulation, Tempo: all dies wird mitbedacht, um die Musik soweit wie möglich „auf den Punkt zu bringen.“

Musik Webern, Bagatellen op. 9 (komplett)

Autor: Bei Webern gibt es ein Hinzutretendes, die Subjektivität und das Horchen auf das Triebleben der Klänge. Der Begriff des „Triebes“ deutet dabei an, dass etwas nicht zu Bändigendes beteiligt ist. Etwas Unbewusstes, welches subjektiv gestaltet wird. Der Vorwurf des Mathematischen gegen die Musik Weberns zielt deshalb ins Leere. Selbst das von Cesar Bresgen berichtete Konstruieren auf der Tischplatte ist noch Produktion von Sinnlichkeit, wenngleich einer sehr sublimen.

In der seriellen Musik der 50er Jahre sieht das schon anders aus. In der seriellen Musik werden kombinatorische Verfahren von der reinen Tonfolgenbestimmung auf zahlreiche weitere Elemente des musikalischen Klangs übertragen werden. Damit wird die Zahl und das kompositorische Zählen zentral.

Für die serielle Schule war es eigentlich nur folgerichtig, den Musiker als einen imperfekten Interpreten der komplizierten kompositorischen Strukturen aufzugeben. Mit der Entwicklung der elektronischen Musik hatte man ein passendes Medium gefunden.

Musik Stockhausen, Elektronische Studie No. 2 (unter den vorhergehenden Absatz legen und hier eine halbe Minute stehen lassen unter dem Text lassen)

Autor: Ganz explizit kann man durch die Möglichkeiten der elektronischen Musik festlegen, wann etwas zu welchen kompositorischen Bedingungen zu erklingen hatte. Es gibt keine subjektive Auslegung. Hinter all diesen Bemühungen steht der Wunsch nach einer sehr genauen Kontrolle und Beherrschung musikalischer Vorgänge. Diese sollen ihrerseits durch ein Höchstmaß an Objektivität, das heißt in diesem Fall, technischer Rationalität ausgezeichnet sein. Alles Subjektive erscheint als Form des Willkürlichen und somit Schmutzigen. Hierin liegt vor allem der Unterschied zur Perfektion des Anton Webern. Hinter dem Versuch, den musikalischen Text zu objektivieren, steht bei Webern ein Ausdruckswille, der zu seiner ästhetischen Realisierung konstruktive Mittel einsetzt. In den Worten aus Samjatins Roman würde man eine so geartete Musik wohl als „rationale Epilepsie“ bezeichnen.

Musik Stockhausen, Elektronische Studie No. 2 (wieder aufblenden für längere Zeit und ausblenden)

Autor: Als klangliche Grundlage dieser elektronischen Studie Nummer 2 von Karlheinz Stockhausen dienen sogenannte Sinustöne, quasi die Ursuppe der Tonphysik. Töne die physikalisch absolut ebenmäßig sind. Töne, die gar nicht reiner oder steriler sein könnten. Adorno bezeichnete den „nackten Ton“ „einen anti-ideologischen Grenzwert“. Erst in der Kombination diese elektroakustischen Grundmaterials erfolgt die klangliche Tongebung und damit die Musik. Das akustische Gegenüber des Sinustons ist das „weiße Rauschen“. Das weiße Rauschen umfasst das für Menschen hörbare Tonspektrum in seiner Gesamtheit. Es wird durch diverse Filter dann zum farbigen Rauschen und gewinnt dadurch charakteristische Züge. Zwischen den extremen tonphysikalischen Polen Sinuston und weißes Rauschen steht die kompositorische Arbeit.

Zu den produktiven Aspekten dieser Musik gehört es, dass sich auf diese Weise neue Existenzformen der Musik entwickeln lassen. Diese Musik konnte aus ihrem Material heraus einer anderen Logik folgen als es eigentlich alle Musik zuvor tat. Und das ist in der Tat sehr interessant: Durch den Übergang zu einer Musik, für die das mathematische Stimmen zentral ist, tritt sie aus dem Kreis des Irdischen heraus. Nicht von ungefähr nannten Zeitgenossen diese Musik zum Beispiel „Sphärenmusik“. Diese von subjektiven Einflüssen der Interpreten bereinigte Musik ist zugleich Ausdruck der Vision, dass man so komplett neuartige musikalische Kontinente oder Welten aufdecken könne. Welten, die sich jenseits der von Traditionen geprägten Geschichte abendländischer Musik befinden und neue Formen von Sinnlichkeit vermitteln können. Stockhausen sieht darin die Chance zu einer neuen Musiksprache:

Zitat: Mit dem allmählichen Ausklang der individualistischen Epoche der europäischen Kultur verlieren sich in jüngster Zeit die Nationalstile und überspitzten Persönlichkeitsstile immer rascher. Tatsächlich hat um 1950 eine Generation damit begonnen, eine neue Musiksprache zu formulieren, die alle Voraussetzungen dafür enthält, eine kollektive, übernationale und weitgehend überpersönliche Musiksprache zu ermöglichen.

Autor: Weitgehend überpersönlich soll diese Sprache sein? Damit will Stockhausen zugleich die Musik in den Rang einer objektiven allgemeinen Sprache hineinheben. Dieses Verständnis einer allgemeinen Sprache erinnert nicht zufällig an die Zahlenmetaphysik der Pythagoreer. Die von Stockhausen geforderte Sprache stünde gleichermaßen über und hinter den Menschen und Zeiten und will dadurch Verbindlichkeit beanspruchen oder wenigstens suggerieren. Durch die Überbetonung des Objektiven aber wird in der seriellen Musik das schwankende Gleichgewicht von subjektiven und objektiven Gestaltungsmitteln zum Kippen gebracht. Das war den Hauptvertretern dieser Musik bewusst. Es verwundert nicht, welchen lebensgeschichtlichen Weg die Hauptvertreter der seriellen Schule genommen haben.

Karlheinz Stockhausen kehrte sich zwar ab von den mathematisch-theoretischen Prinzipien kompositorischer Arbeit, aber sein Weg führt folgerichtig in religiöse Dimensionen. In seinem Licht-Zyklus gibt es eine musikalische „Weltformel“; eine zentrale musikalische Substanz gewissermaßen. Ein anderer Pionier der seriellen Musik, Pierre Boulez, ist dagegen gefangen in einer ständigen Umarbeitung und Neuformulierung seiner Werke, die aus der schwierigen Anpassung von Vorstellung und Realisation herrührt. Der Italiener Luigi Nono wendete sich einer Neubewertung der Bedeutung des Subjektiven in seiner Musik zu. Neben einem großen Maß an Organisation, geht Nono jetzt zahlreiche Wagnisse ein. In dem Orchesterstück „A Carlo Scarpa“ zum Beispiel müssen die Kontrabässe am Anfang auf unbetonten Taktteilen mit dem Bogen auf die Saite schlagen. Das ist unmöglich mit der notierten Exaktheit zu erreichen. Aber genau das scheint intendiert zu sein: exakte Imperfektion. Diese Musik franst gewissermaßen aus: Es gibt keine präzisen Ränder mehr, es gibt keine präzisen Klänge.

Musik A Carlo Scarpa (von Anfang an drei Minuten); dann unter dem Text stehen lassen

Autor: Beim späten Nono ist dieses Unpräzise konstitutiv zur Darstellung der musikalische Idee. Man könnte sagen, dass durch die kompositorischen Verfahren eine Unbestimmtheit und damit etwas im traditionellen Sinne Unkünstlerisches in das Kunstwerk einfließt. Dadurch wird die ästhetische Oberfläche rauher und gleichzeitig größer. Nono zieht damit eine Konsequenz aus Unstimmigkeiten der seriellen Musik: Dass man nämlich das musikalische Material vollkommen beherrschen könne und dadurch in letzter Konsequenz absolut Verbindliches hervorbringe.

Nicht nur innerhalb der seriellen Schule zerfiel die Vorstellung der „integralen Komposition“. Komponisten wie Hans-Werner Henze teilen schon von Anfang an die Prämissen der seriellen Musik nicht. Henze plädiert in einem Gespräch mit dem Musikjournalisten Hans-Klaus Jungheinrich für eine „Musica impura“.

Zitat: Meine Musik ist „impura“, wie Neruda von seinen Gedichten sagt. Sie will nicht abstrakt sein, sie will nicht sauber sein, sie ist „befleckt“: mit Schwächen, Nachteilen und Unvollkommenheiten. … Daß ich zum Beispiel in meiner Arbeit die strenge Dodekaphonie oder gar die Serialität, bei der alle Parameter determiniert waren, vermied, liegt daran, daß mich diese Methoden schon aus dem Grund nicht interessiert haben, weil sie mir so „pur“ vorkamen und weil mir schien, daß ich nichts sagen konnte innerhalb dieser Regeln. Mich interessiert Musik, um Stimmungen, Atmosphäre, Zustände wiederzugeben. Ich will keine absolut zugeschnürten Musikpakete.

Autor: Damit führt Henzes Deutung wieder zu den Romanausschnitten bei Samjatin zurück. Henze will eine Musik, die ebenso menschlich ist wie es das geflügelte Wort vom „Nobody is perfect“ anzeigt. Das irdische Leben ist nun einmal nicht auf die im musikalischen Sinne sprichwörtliche „Reihe“ zu bekommen. Henze legt dabei großen Wert auf den Begriff der Sprachlichkeit von Musik. Nur Musik, die sich der Sprache annähert, kann diese diversen Emotionen und Atmosphären hervorbringen. Dazu bedarf sie nach Henze eines Vokabulars, das irdischen Ursprungs sein muss. Sie bedarf eines Vokabulars, das von vornherein verstanden wird – damit steht Henzes Sprachverständnis konträr zu derjenigen Stockhausens, der eine neue Übersprache konstruieren möchte. Henze zieht zu diesem Zweck zum Beispiel „Zitate“ heran. In seiner sechsten Sinfonie, auf die seine Worte primär bezogen sind, benutzt Henze zu diesem Zweck Zitate von Volksliedern oder gegen Ende „einen afro-amerikanischen Tanzrhythmus, der gegen Ende des Stücks ‘ausbricht’ und alles andere sich unterwirft.“

Musik Henze, 6. Sinfonie (Schluss – vier Minuten Musik etwa)

Autor: Zwischen den Vorstellungen Henzes und den Konsequenzen Nonos gibt es auf den ersten Blick einige Gemeinsamkeiten: Die Absage an kompositorische Systeme zum Beispiel. Jedoch ist wie so häufig ein Unterschied im Detail einer um das Ganze. Bei Nono hat die Neubetonung der Subjektivität experimentellen Charakter, bei Henze ist sie traditionell orientiert. Die Erfahrung der seriellen Musik ist auch in Nonos späten Werken präsent. Denn den seriellen Verfahren ist, entgegen ihrer bloß theoretisch behaupteten Berechenbarkeit, ein gar nicht so kleines Maß an Nichvorstellbarem eigen.

Einer Ästhetik des Nicht-Perfekten und Rauhen kommt man gegenwärtig am nächsten, wenn man den Begriff des Experimentellen in ihren Mittelpunkt stellt. Dinge, die nicht festschraubbar sind, musikalische Vorstellungen, die sich auszeichnen durch einen Überschuss an Ungeklärtem. Theodor W. Adorno fasst diese Idee in den Satz zusammen: „Die Gestalt aller künstlerischen Utopie heute ist: Dinge machen, von denen wir nicht wissen, was sie sind.“ Dann muss sich Kunst in die Gefahr begeben, den Boden unter den Füssen zu verlieren. Sie gerät ins Schweben. Aber sie schwebt über dem Boden des Irdischen.

„Things To Come“ heißt eine Komposition von Dizzy Gillespie. Gillespie wagte 1948 mit dieser Musik einen Blick in eine musikalische Welt, über die er noch nicht viel wußte.

Musik Dizzy Gillespie, Things To Come, 3:25

Autor: Diese Musik ist unruhig, brüchig, irr und noch ungeklärt. Was sich hier im Jazz zeigt, gilt für alle Musik, die über den Rand des Selbstverständlichen schaut. Solche Musik ist Avantgarde, sie ist ein Vortrupp ins Ungewisse. Der Begriff der Avantgarde wird dadurch historisch nicht mehr fixiert. Auch Bachs, Mozarts, Beethovens und Mahlers Musik und die vieler anderer kann immer noch ins Unbekannte hineinstoßen, wenn man ihre musikalischen Sprengsätze zu zünden weiß, indem man sie nicht klassizistisch glättet und reinwäscht. Nur so wird diese Musik den Schein der Selbstverständlichkeit durchbrechen und die Hörer verstören. Eine perfekte Musik hörte auf zu existieren, wäre sinnlich tot, würde bedeutungslos werden. Die Absicht der Biotechnologie, den Menschen technisch durch Genmanipulationen zu perfektionieren läuft letztendlich auf die Abschaffung des Lebendigen hinaus, auf ein Einfrieren von Glück und Schmerz. Der perfektionierte Mensch erleidet den gesellschaftlichen Kältetod – und kein Skriabin, kein Bach und kein Mahler und auch kein Kuss eines Märchenprinzen wird ihn mehr auftauen können.

Musik Bach, Präludium b-Moll gespielt vom „Sogenannten Linksradikalen Blasorchester“

Quelle:  Bayern2Radio, Dienstag, 15.2.2000, 20:05 // Autor: Martin Hufner