Die Zeiten haben sich grundlegend gewandelt. Zwar hat mein Vater vor 20 Jahren auch eine Aktie gehabt, aber es war nur eine und die war von einem Autokonzern, dessen Autos er nie gekauft hätte. Er berichtete gerne von den vor Ort stattfindenden Aktionärshauptversammlungen. Denn es gab Grillwurst und er konnte mal alle Autotypen testfahren. Ab und an gab es auch eine Dividende.
Als Kind vor 25 Jahren spielte ich gerne das Börsenspiel und ich liebte vor allem die Shell-Aktie der Form und Farbe wegen. Das wussten meine Mitspieler natürlich und so konnte aus mir nix werden – ich verlor grundsätzlich. Aber auch den Führerschein habe ich nie gemacht und sowieso meide ich verhäckseltes gegrilltes Fleisch. Als nun in meiner Umgebung zahlreiche Menschen wie die Lemminge auf eine infinitive Aktie zurannten, wurde mir bange. Hatte ich etwas falsch gemacht, haben gar meine Eltern und Geschwister etwas falsch gemacht mit mir?
Denn eigentlich interessiere ich mich nur für Musik, Politik und Liebe – was ja dasselbe ist. Ich sitze also auf meinem Sparbuch (von dem viele sagen, ich könne das Geld dann auch gleich verbrennen) und spiele in einer sonnigen Ecke des Zimmers meine Violine oder disputiere mit Freund und Feind. Doch ich habe immer weniger Sonne und immer weniger Freunde oder Feinde, weil immer mehr virtuell in den fensterlosen Hallen der Börsen, ihrem „neuen Markt“, stehen und diese, ihre neuen „Werte“ in ihrem Auf-und-Auf beobachten.
„Wo der Markt seiner Eigengesetzlichkeit überlassen ist, kennt er nur Ansehen der Sache, kein Ansehen der Person, keine Brüderlichkeits- und Pietätspflichten, keine der urwüchsigen, von den persönlichen Gemeinschaften getragenen menschlichen Beziehungen“ schrieb Max Weber Anfang des 20. Jahrhunderts.
Ja, so steigen viele in den Strudel der Wertesteigerung ein, derweil ihre menschlichen Werte ebenso geschwinde verfallen. Ex-Finanz-Waigel Oskar Lafontaine hatte das gespürt, als er bekannte: „Das Herz wird noch nicht an der Börse gehandelt, es hat einen Standort…“
Und so sehe ich, wie viele Menschen in eine Person wie Stefan Raab investieren – quasi den menschlich-televisionären Tiefpunkt und ich erkenne, wie tief der werteverwurstende Graben auch die öffentliche Kultur befallen hat. Ich kann den Leiermann schon hören, er hat das Dorf längst betreten…
Zuerst erschienen in nmz Ausgabe:4/2000 – 49. Jahrgang