Auf dem Plan stehen zahllose psychologische Helfer, den den Prozess der Kreativität in der Form des bloßen Problemlösens (von welchen Problemen auch immer) sehen und entsprechende Techniken der Lebensbewältigung anbieten, die man, so gut es geht, zu formalisieren weiß. Der Bildungsforscher Hartmut von Hentig sieht im Begriff der Kreativität und seiner Verwendung ein ‚Heilswort‘ der gegenwärtigen Epoche: „Es steckt noch voller Versprechungen. Jeder weiß es zu nutzen, keiner mag es entbehren, keiner kritisiert es. Es ist gleichermaßen beliebt bei Technikern und Umweltschützern, Wirtschaftsführern und Pädagogen, den schwarzen, roten, grünen und blaugelben Parteien“ (Hentig, S. 10). Den Begriff der Kreativität hat ein ähnliches Schicksal ereilt wie den der „Kultur“ (der reicht von der Hoch-, über die Ess- bis zur Unternehmenskultur) oder den der „Bildung“ (Schule, Menschenbildung, Erziehung; moralische, technische Bildung; Bildung des Herzens …). Vor Jahrzehnten erging es dem Begriff der Aufklärung nicht anders. Eine eigentümliche Dialektik scheint in diesen Begriffen zu liegen. Aufstieg und Verfall begleiten sie in einem Zug.
Hentig sieht in einem inhaltsgefüllten Begriff der Kreativität eine Tätigkeit, die „sich nicht in den Dienst einer herrschenden Ordnung oder gegebenen Einrichtung nehmen [lässt]. Ein Produkt einer solchen – zum Beispiel des Marktes oder der Schule – kann sie nicht sein“ (Hentig, S. 68). Sein Resümee fällt noch weit skeptischer aus: „Es läßt mich vermuten, daß uns an wirklicher Kreativität gar nicht so viel liegt. Sie bringt ja so viel eigene Probleme, Schwierigkeiten, Unregelmäßigkeiten mit sich!“ (Hentig, S. 70) Noch spitzer formuliert: Wer kreativ ist, ist vor allem unbequem. Wendet man den Begriff der Kreativität auch auf künstlerische Tätigkeiten in dieser Weise an, so bleibt von den gegenwärtigen Kulturprodukten nicht viel übrig.
Ein Beispiel: Die Musikindustrie wirft jeden Tag im Bereich der Musik eine große Anzahl von Erzeugnissen auf den Markt. Will man wirklich jedem dieser Erzeugnisse die Ehre des „kreativen Schaffens“ verleihen? Nicht alles, was klingt, ist ein künstlerisches Produkt, sondern einfach erst einmal ein bloß klingendes. Diese Produkte des „Kunsthandwerks“ werden vor allem kreativ kommuniziert, damit sie verschieden genug voneinander sind um überhaupt wahrgenommen zu werden und bewerbbar zu sein. Allein in Deutschland gibt es mindestens 50.000 musikalische Urheber, die durch die GEMA vertreten werden. Doch dürfte es einigermaßen schwer fallen, alle deren Erzeugnisse als genuin kreative Leistungen anzusehen. Kulturindustrie und Kreativität schließen sich gegenseitig aus. Das Phänomen dieser „Nutzen- und Markt-Kunst“, ist in der modernen Mediengesellschaft eklatant, war jedoch auch Ende des 18. Jahrhunderts bemerkt worden. In seinem zweiten Brief –Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ von 1795 bemerkte Friedrich Schiller:
„… denn die Kunst ist eine Tochter der Freiheit, und von der Notwendigkeit der Geister, nicht von der Notdurft der Materie will sie ihre Vorschrift empfangen.
Jetzt aber herrscht das Bedürfnis und beugt die gesunkene Menschheit unter ihr tyrannisches Joch. Der Nutzen ist das große Idol der Zeit, dem alle Kräfte fronen und alle Talente huldigen sollen. Auf dieser groben Wage hat das geistige Verdienst der Kunst kein Gewicht, und, aller Aufmunterung beraubt, verschwindet sie von dem lärmenden Markt des Jahrhunderts“ (Schiller, S. 6). Ein halbes Jahrhundert später beklagte sich der Amerika-Reisende Alexis de Tocqueville über die unaufhaltsame Ausbreitung einer Literaturindustrie. Man wird kaum unterstellen können, dass dies gleichbedeutend sei mit einer erheblichen Zunahme künstlerischer Kreativität.
Der Witz bei der Frage nach dem Begriff der Kreativität ist es, dass es ihn – bezogen auf künstlerische Leistungen – bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts so gut wie gar nicht gibt. Man findet ihn nicht in Abhandlungen ästhetischer Theorien. Er wird in den ästhetischen Schriften Kants, Hegels, Schillers oder Schopenhauers und Nietzsches überhaupt nicht gewürdigt. Auch beispielsweise bei Kandinsky, Adorno oder Danto sucht man vergeblich nach der Verwendung des Begriffs der Kreativität. Kreativität scheint ein philosophisch und ästhetisch uninteressanter, ja unnützer Begriff zu sein, der simpel verwendet eben kein Differenzierungspotential zu besitzten scheint. Die Konjunktur dieses Begriffs seit Mitte des letzten Jahrhunderts setzt mit der Entstehung der amerikanischen Kreativitätsforschung ein. Grundlage für seine wissenschaftliche Aufbereitung war die Kritik sogenannter Intelligenz-Tests. Diese hatten die Messbarkeit von Intelligenz zu objektivieren zum Ziel und waren somit nicht in der Lage, zwischen „erwarteter und unerwarteter, eigenwilliger, ungewöhnlicher Leistung zu unterscheiden“ (Hentig, S. 15). Es konnte immer nur bekannte Lösungswege geben, Abweichungen – die ja unterschiedlichste und gültige Motivationen haben können – sind Fehler und vor allem unangenehm. „Man versteht, warum Lehrer einen Schüler mit hohem IQ einem Schüler mit hoher Kreativität vorziehen „unabhängig davon, welchen Rang sie der Kreativität in ihrer Bildungstheorie einräumen. Der eine tut, was er soll, der andere, was er will“ (Hentig, S. 20).
Interessant ist auch die zeitliche Konvergenz der Konjunktur des Begriffs der Kreativität mit Arbeiten, die sich mit dem Niedergang des Individuums und dem Zerfall der Öffentlichkeit sowie der rasanten Entwicklung der Kulturindustrie beschäftigen – ein Zufall ist das nicht. Wie als ein kompensatorischer Begriff scheint man mit der Inflation von Kreativität dem schwindenen Konzept eines mündigen, sozialen, selbstverantworteten Lebens entgegenzutreten. Hobbies gelten seither als besonders kreative Inseln im Meer einer verwalteten Welt. Kreativität wird zur Ersatzreligion in einer sich immer weiter zersplitternden Gesellschaft, zu einem Zauberwort.
Dem Begriff der Kreativität wieder eine Ehre zukommen zu lassen, die er offenbar nie hatte, erforderte meines Erachtens seine Reduzierung und Verdichtung, wenn er nicht alles und damit nichts mehr erfassen soll. Dazu gehörte auch die Abkopplung von Phänomenen anthropologischer Binsenweisheiten (so wie Kinder unermüdlich in ihrer Entwicklung Probleme lösen müssen und dabei wie von selbst „kreativ“ zu sein gezwungen sind). Dann ließe sich auch ohne weiteres anschließen an die philosophische und soziologische Tradition: Ästhetisch zum Beispiel, wenn man auf Kants Begriff der „Einbildungskraft“ zurückweist, den des „Spiels“ und der „Freiheit“ (Schiller, Plessner), der „Unbeherrschbarkeit“ und des „Anderen“ (Adorno) oder sozial über den Begriff des „Eigensinns“ und des „Unterscheidungsvermögens“ (Kluge/Negt). Kreativität wäre beispielsweise Ausdruck kritischen künstlerischen Denkens. Kreativität, in Zusammenhängen eines nur verwertenden Handelns verstanden, kann sich nicht als gesellschaftliche Kulturleistung artikulieren. Dafür wäre vielmehr eine Gesellschaft gefordert, die Kreativität und Kultur als einen Kommunikations- und Produktionsbegriff begreift: „Kultur als Ackerbau der gesellschaftlichen Sinne“ nennt dies der Soziologe Oskar Negt (Negt, S. 484 ff.). Nur als gesellschaftliche und zugleich vergesellschaftete Arbeit anerkannt kann Kreativität wieder zu Ehren kommen. Andernfalls gehen Kultur und Kunst zunehmend in bloßer Werbung, Bildung in Dressur zu Opportunismus, Kreativität in pseudospontanes Grimassenschneiden von Geldwerten auf.
Ausgewählte Literatur:
- Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, Frankfurt/M. 1973.
- Arthur C. Danto: Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst, Frankfurt/M. 1991.
- G.W.F. Hegel: Einleitung in die Ästhetik, München 1985.
- Hartmut von Hentig: Kreativität, Hohe Erwartungen an einen schwachen Begriff, München/Wien 1998.
- Max Horkheimer: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, Frankfurt.M. 1985.
- Wassily Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst, Neuilly-sur-Seine 1952.
- Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, Frankfurt/M. 1974.
- Alexander Kluge / Oskar Negt: Geschichte und Eigensinn, Frankfurt/M. 1996.
- Oskar Negt: Arbeit und menschliche Würde, Göttingen 2001.
- Helmuth Plessner: Diesseits der Utopie, Frankfurt/M. 1974.
- Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen, Stuttgart 1989.
- Charles Taylor: Wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie. Aufsätze zur politischen Philosophie, Frankfurt/M. 2002.
- Alexis de Tocqueville: Über die Demokratie in Amerika, Stuttgart 1985.
Erschienen in Politik & Kultur Ausgabe wasweissich >>> http://www.puk-online.net/