Aus der alten Kritischen Masse fällt mir ein Artikel ein, der anzeigt, wie ich zum Jazz fand. Es war kein einfacher Weg, dafür umso intensiver. Der Eintrag beginnt wie ein typischer Blogeintrag. Danach geht es um Musik.
Nachdem Hazelwood Records heute mal nachgehört hat, ob denn die CD mit der neuen Mardi-Gras-bb-CD eingtroffen sei (letzten Donnerstag), bat man mich doch um Stellungnahme. Ich habe sie mir jetzt mehrfach angehört und komme noch zu keinem Ergebnis. Denn sie muss sich wirklich ihren Platz erkämpfen neben einer CD der Kölner Saxophonmafia und derjenigen von Triosphere. Und das führt mich zu einer weiteren Station der Vergangenheitsbewältigung. In den letztgenannten Formationen spielt ein gewisser Roger Hanschel mit und der war bis zur von der fünften bis zur zehnten Klasse in meiner Parallelklasse in unserer schönen Integrierten Gesamtschule. Wobei, Parallel waren neben seiner Klasse weitere sechs. (Wie viele Klassen gab es also in diesem Jahrgang? In jeder Klasse waren durchschnittlich 36 Schüler, das heißt es gab sechs Gruppentische a 6 Schüler. Wie viele also im kompletten Jahrgang? – zu gewinnen gibts da nichts.) Roger, von dem es ein gewisses Spiel war, seinen Namen entweder als Roger oder als Rodscher zu artikulieren, Roger war ein guter Saxophonist und seine ältere Schwester hatte die gleiche Geigenlehrerin wie ich, nur war seine Schwester begabt und fleißig – was beides mir abging. Aber ich schweife ab.
Im Musikunterricht waren wir gemeinsam in einer Klasse, während die anderen Kinder bunte Bilder malen oder klebten oder schnitten, kneteten. Man nannte das in unserer fortschrittlichen Lernanstalt übrigens „Visuelle Kommunikation”. Wenigstens ließ man den Begriff der Kreativität damals komischerweise weg. Also Roger und ich und noch ein paar wenige waren Auserwählte für den Musikunterricht in der zehnten Klasse. Thema: Geschichte des Jazz. Vom Blues, Negro Spirituel über New Orleans, Chicago, Swing, Bebop, Cool Jazz bis zum Free Jazz. Ich, als Traditionalist mit Anspruch wählte das Referat zu Cool Jazz (schon von wegen Modern Jazz Quartet und Bachadaptionen, Take Five etc. pp.). Roger war aber der King, er machte Free Jazz. An den Inhalt seines Referates kann ich mich nicht mehr erinnern, aber es kamen Coleman und Coltrane mit Sicherheit vor. Respekt, zumal ich damals dieser Musik nicht Nichtaufgeschlossen gegenüber war, aber irgendwie war es doch krumme Musik, die mich nicht spontan gefangen nehmen wollte. Heute ist mir das schleierhaft, wie diffus und chaotisch mir Coltranes Ascension vorkam. Später besaß ich eine der (zwei!) Aufnahmen, aber ich hörte sie mir nicht an.
Das war der Cool Jazz natürlich nicht. Dachte ich wenigstens und hörte mir diese Anpassungsmusik an die traditionelle bürgerliche Konzertmusik des 18. Jahrhunderts an. Aber ich hatte auch gelesen, dass ein gewisser Lennie Tristano da eine nicht unbedeutende Rolle spielte. Eine Platte zu 16,90 DM hatte sogar ein Plattenlanden in VW-Stadt. Die legte ich auch auf und dachte: Au Scheiße, das klingt nicht gut. Shepp, ich meine schepp und so sinnlos, vor allem die Nummer 1 “Line up.” Ich bereute ernsthaft, das Referat über diese Musik halten zu müssen, die mir gar nichts sagte und gar nichts brachte.
Musikbeispiel 1: Lennie Tristano, Line Up (1956), Anfang
Aber es ist natürlich wie mit aller Musik, die man sich lange genug eingibt und die einen vor allem irritiert, obwohl sie einen abstößt. Man bimst die sich ins Ohr. Langsam aber sicher begann ich die diese Musik zu kapieren, zu verstehen wäre zu hoch gegriffen. Das war nämlich wirklich „cool” – eiskalt phrasiert, ich würde es heute als an der Bläserphrasierung orientiert bezeichnen, also auf jeden Fall am Atem. Die zahllosen Schwankungen in der Lautstärke, die Unvorhersehbarkeit der Entwicklungsereignisse, die Länge der Phrasen an sich unbestimmt. Darunter das treibende Tun von Schlagzeug (Art Taylor) und Bass (Gene Ramey), die eine permanente Unruhe erzeugen und doch sehr gleichmäßig agieren. Diese Mischung aus Ziellosigkeit und musikalischer Einzelentwicklung, das ist groß und für die Zeit außerodentlich. Hatte ich doch sonst nur mit Dave Brubecks “Take 5” oder Miles Davis „Sketches of Spain” etwas am Hut.
Nachträgliche Ergänzung: Einmal drüber schlafen schadet nichts. Jetzt wird mir durch die Beschreibung klar, was da passiert. Die rhythm-section befindet sich gerade im Übergang von “Beat” zu „Pulse”. Wenn man das 9-taktige (!?) Vorspiel mitartikuliert, dann kommt man auf logische Takteinheiten, die letzte Bassphrase ist eine schleife zur Grundtonart zurück. Dieses Vorspiel eigentlich eine Vorkadenz zum Stück. Sicheres Gebiet also. Mit dem Einsatz des Pianos von Lennie Tristano wird diese durch Repetition stabilisiert. Die ersten Piano-Phrasen sind ebenfalls kurz und genau kalkuliert. Doch dann verlässt die melodische Fortschreitung Tristanos endgültig den Bezugsrahmen der funktionsharmonischen Tonalität wie den der metrischen schematischer Gegliedertheit. Die Musik beginnt zu schwimmen. Insgesamt fällt es dann sehr schwer, überhaupt noch in Takten zu vier Schlägen (gefühlten zwei) zu denken. Die Musik fließt, strömt.
“Line up” dauert auf der Platte ausgewiesen 4:33. Aber diese Dauer ist willkürlich. Indiz dafür ist, dass die Musik nicht zu einem Abschluss kommt, sondern ausgeblendet wird. Es schiene musikalisch auch problematisch, diesen andauernden musikalischen Lauf zu stoppen.
Was macht diese Musik denn „cool”. Die Verzacktheit der melodischen Konstruktion kann man gewiss noch dem Bebop zurechnen, der mit seinen geradezu artistischen Themenkonstruktion Pate gestanden haben könnte. Auf der anderen Seite stünde am Ende der 50er Jahre der Hardbop, der vor allem harmonisch den bisherigen Jazz erweiterte. Genau dazwischen liegt der Jazz des Lennie Tristano. Es ist die Mischung, wie sie oben beschrieben worden ist, eine Art von gebändigter Expression. Nicht so abgeklärt wie im Hardbop und nicht so rotzig wie beim Bebop.
Auf der Platte, die sich seither besitze (Atlantic Records ATL 50 245) finden sich, wenn vielleicht nicht die ersten, so doch einige der ersten technischen nachträglichen Bearbeitungen (Manipulationen) der Originalaufnahmen. Der “Turkish Mambo” ist im mehrfachen Playback entstanden und „Line Up” soll nachträglich durch Tempobeschleunigung seine Fassung erhalten haben. Das liegt auch nahe, denn der Klavierklang ist fast etwas zu dünn, zu knapp.
Zurück zu Roger. Er ging nach der zehnten Klasse ab und widmete sich dem Saxophonspiel, später habe ich ihn einmal in Regensburg mit der Kölner Saxophonmafia gehört und kurz gesprochen. Mein Feuer für den Jazz wurde damals – auch dank unserer lieben Lehrerin – gelegt. Meine Schwester überreichte mit kurz vor dem Abitur Josts Monographie zum Free Jazz und wenige Monate später studierte ich bereits Musikwissenschaft bei Ekkehard Jost, wandte mich aber eher der sogenannten Neuen Musik zu. Doch wie bei Albert Ayler habe ich den Jazz nie aufgegeben. Nicht als Musik zum Hören und nicht als Musik zum wie auch immer bescheidenen Analysieren.
Tristano, 1919 geboren, starb erst 1978. Aus der musikalischen Öffentlichkeit hat er sich jedoch weitaus früher verabschiedet. Die Gründe dafür kenne ich nicht.
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