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1965 – Albert Ayler: die einseitige Platte

Inschrift. Foto: Hufner
musikkritik.org
1965 – Albert Ayler: die einseitige Platte
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Bells von Albert Ayler.
Bells von Albert Ayler.

1. Mai 1965, New York – Town Hall, Albert Ayler und ein paar Freunde machen eine Platte, etwas weniger als 21 Minuten lang: Bells. Mit von der Partie sein Bruder Don (tp), Charles Taylor (sax), Lewis Worrell (b) und Sonny Murray (dm). Eine teilweise chaotische Musik, die sich gelegentlich militaristisch-hymnisch verdichtet.

Die ganze letzte Zeit spukt mir Albert Ayler im Kopfe herum. 1936 geboren, mit 34 Jahren tot im East River aufgefunden. Er startete Anfang der 60er Jahre mit einem Sound des musikalischen Auskotzens. The first Recordings mit den Dänen als rhythm-section an seiner Seite, die gar nichts kapieren, trollig-öde in älterer musikalischer Technik hängen bleiben. „Eindruck einer hoffnungslosen Verstimmtheit” nannte dies Ekkehard Jost dies in seiner Analyse von 1975 unter dem Titel “Free Jazz.”

Musikbeispiel 1: Aus „Rollins‘ Tune” – First Recordings, Stockholm 1962 – hier mitten im Solo, das Schlagzeug klopft sich so durch, Ayler spaltet Ton für Ton und der Bassist nudelt seine gleiche Phrase wie eine Maschine. Dann bricht das Solo Aylers ab und er spielt ein paar Cluster auf dem Klavier. Das ist alles so unmotiviert wie hilflos, aber irgendwie auch schon wieder niedlich. (MP3 – 1:06 – 1,23 MB)

Dann zwischen ’64 und ’66 Aylers Wendung zur spiritualistisch-christlichen Hymnik und Folkmusic-Thematik. Kann man fast immer mitsingen. Außer auf der Platte, die ich immer haben wollte, aber nie angeschafft habe: “New York Eye and Ear Control” (ursprünglich als Filmmusik zum gleichnamigen Film von Michael Snow). Da sitzt die ganze New Yorker Garde mit ihm zusammen. JohnTchicai, Roswell Rudd, Don Cherry, Gary Peacock und Sonny Murray. Das war gerade die Zeit als sich der Free Jazz bündelte und sich eine neue Klangstufe eroberte. Klar, mit Coltranes Ascension, dem sagenhaften Doppelquartett.

Musikbeispiel 2: Aus Spirits Rejoice (1965), Ausschnitt aus dem gleichnamigen Stück. Ayler lässt hier die „Marseillaise” einfließen und den Mittelteil aus “Oh Tannenbaum”. Man muss aber nur einmal dem Schlagzeug Murrays folgen, der sein steigernedes leicht daneben liegendes ratatatatataa auf der Snare macht. Er bringt das Tempo komplett zum Verschwimmen. Die rhythm-section wird eigentlich von den Melodie-Instrumenten übernommen. Der Baß von Gary Peacock macht beides auf einmal, ist rhythmischer Bezugspunkt und melodischer Kontrapunkt. Ich gebe zu, ich liebe diesen Sound, das Musizieren mit bekannten Mitteln und ihre zeitgleiche künstlerische Ergänzung; nicht als ein Zertrümmern von Musik sondern ein Ergänzen und Ausweiten. (MP3 – 1:31 – 1,7 MB)

Mit Ayler ging es danach rückwärts, abwärts. Während auf seinen Platte bei „esp” deutlich vermerkt wurde:

The artists alone decide what you will hear on their ESP-Disk‘.

scheint Impulse “künstlerbildender” gewesen zu sein. Angeblich habe Ayler auch eine Klausel zu akzeptieren gehabt, nach der er sich verpflichtete, auf seinen Schallplatten zu singen (nach Jost, S. 153). Auch das oben abgebildete Plattenlabel zeigt dies. Man machte damals im eigentlichen Sinn „einseitige” Platten.

Jost resümiert Aylers letzte Entwicklung sehr einleuchtend:

„Die der musikalischen Evolution Albert Aylers immanente Tragik besteht darin, daß er in dem Wunsch, sich seinen Hörern mitzuteilen, seine Kraft auf Plattitüden konzentrierte, daß er nicht nur das Komplizierte durch das Einfache, sondern das Einfache durch das Hohle ersetzte, und daß er schließlich – um seinen eigenen, im Laufe der Jahre gewachsenen Klischees zu entgehen – seine musikalische Sprache reduzierte, anstatt sie auszuweiten, wie es zur gleichen Zeit und vermutlich aus den gleichen Gründen Don Cherry tat.“ E. Jost, Free Jazz – Stilkritische Untersuchungen zum Jazz der 60er Jahre, Mainz 1975, S. 153.

Aber ich liebe sie doch, die teils chaotische Musik des Albert Ayler. Er stand in seiner Zeit irgendwie doch sehr quer, sein Changieren zwischen populärer Musik und extremem Expressionsgeblase, das hat einen eigene Reiz.

Musikbeispiel 3: Ein Ausschnitt aus Ol‘ Man River (take 2) (24.2.1964). Ayler mit Call Cobbs jr. (p), Henry Grimes (b) und Sonny Murray (dm). Hier die zweite Minute.

In der ersten Minute nur ein Solo des Themas von Ayler. Dann setzen die andern mit ein. Murray wieder mehr andeutend auf den Becken des Schlagzeugs, der geniale Grimes mit Pizzicato-Gegentönen, die eine ganz eigene Melodie formen und die Phasenwiederholung des Themas umranken. Cobbs, hier noch der Traditionalist im Ensemble, weist im Hintergrund den harmonischen Rahmen aus. In dieser vielschichtigen Anlage dann das Solo von Ayler. Das ist auch Free Jazz, selbst wenn man es nicht vorderhand dahin schieben würde. Das klingt alles im Zusammenhang gar nicht so kompliziert, nur differenziert. Es ist schon wirklich erstaunlich, wie das zusammenläuft. Jost hat in seinem Free-Jazz-Buch einmal sehr schön Murrays Schlagzeug-Spiel als eines bezeichnet, welches gegen den zu dieser Zeit vorherrschenden “Schlagzwang” steht. (MP3 – 1:03 – 1,10 MB)

Nachtrag: Die B-Seite von Bells ist übrigens nicht leer. Man kann sie durchaus zu Testzwecken nutzen. Es sind einige Sinustöne verschiedener Tonhöhe und Lautstärke eingeritzt sowie eine breite leere Stelle, die man zum Einstellen des Antiskating nutzen kann.

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