Dass Karlheinz Stockhausen nicht nur in die Kunstmusik hineingewirkt hat, ist längst kein Geheimnis mehr. Reinhard Schulz hat in seinem Nachruf in der nmz darauf aufmerksam gemacht, dass es Stockhausen als einziger Vertreter der sogenannten Kunstmusik des 20. Jahrhunderts auf das Plattencover von Sgt. Pepper‘s Lonelys Hearts Club Band der Beatles geschafft hat. Die isländische Popartistin Björk hat einmal ein Interview mit Stockhausen geführt.
Zahlreiche andere Vertreter, insbesondere aus der Elektropopszene, verweisen auf Stockhausens Einfluss – unter ihnen sicher am bekanntesten der Can-Musiker Holger Czukay, der sogar bei Stockhausen studierte. Stockhausen ist in der Popmusik präsent. Aber man hört ihn eher selten, so ließe sich zusammenfassen, was der Musikwissenschaftler Ralf von Appen in der Zeitschrift „Samples“ des „Arbeitskreises Studium Populärer Musik e.V.“ notierte: „Es finden sich keine Momentformen oder Formelkompositionen, es wird nicht für mehrere gleichzeitig spielende im Raum verteilte Ensembles komponiert, auch Live-Elektronik, Serialismus oder Aleatorik sucht man vergebens. Nicht einmal an Stockhausen erinnernde Klangwelten sind zu entdecken, mit denen noch am ehesten sein Einfluss auf den so genannten Krautrock à la Can und Tangerine Dream oder auf die Collage ,Revolution 9‘ von den Beatles beschrieben werden kann“ (Konkrete Pop-Musik. Zum Einfluss Stockhausens und Schaeffers auf Björk, Matthew Herbert und Matmos, Samples 2.2003)
Dennoch will es so scheinen, dass Stockhausen auch Popmusiker war, wenngleich er nie offiziell Zugang zu dieser Sphäre gesucht hatte, sondern diese als „kommerzielle“ Musik auf einem „unbeschreiblichen banalen Niveau“ (Karlheinz Stockhausen, Vorschläge in: ders. Texte, Band II, Köln 1988, S. 242) empfand.
Zur Erklärung der „unerhörten“ Popularität Stockhausens wird man eher in einer Art Wirkungsästhetik zu suchen haben. Wie kaum ein zweiter Komponist der sogenannten Kunstmusik des 20. Jahrhunderts zeichnet ihn und sein Werk eine Art hochartifizieller Selbst- und Fremdvermarktungstechnik aus. Ob es sich dabei um seine „Licht“-Komposition handelt oder ein ARD-Tagesschau-reifes Helikopter-Quartett. Es ist nicht viel anders als charismatisch zu nennen, was ihn umgibt und umwolkt. So wie er die Sinustöne der frühen elektronischen Musik zu regeln verstand, spielte er auch auf dem Mischpult der Öffentlichkeit, als er sich zu den Ereignissen um den 11. September 2001 äußerte und es damit sogar in die „Bild-Zeitung“ schaffte. Man kann dergleichen aber auch schon früher feststellen. Ende der 60er-, Anfang der 70er-Jahre, als die Plattenfirma Polydor zwei Schallplattenausgaben mit seiner Musik unter den Titeln „Festival of Hits“ und „Greatest Hits“ (zwei Schallplatten) veröffentlichte.
Wirkungsmacht des Werkes
Das alles sind allerdings nur die Ergebnisse seines Wirkens. Der Grund für diese Wirkungsmacht liegt wiederum in seinem Werk selbst – oder zumindest in einigen Teilen davon. Da ist sicher die Arbeit mit modernem technischem Equipment zu nennen, also die Ausarbeitung und Produktion elektronischer Musik in den 50er-Jahren. Die Arbeit mit Sinustongeneratoren, die man mit Hüllkurven versah und rhythmisch pulste, das war alles Fortschritt pur im Zeitalter der Atombombe und des Sputnik-Schocks. (Der Sinuston als Inbegriff des musikalischen Atoms war ein geflügeltes Wort.) „He discovered blips and blops,“ sagte Björk, die Tochter eines Elektrikers. Und von Appen kommentiert Björks Einlassungen: „Die Elektronische Musik hält sie für das Genre, in dem zur Zeit die größte Freiheit für Innovationen, Risiken und Experimente besteht.“ Es eignete dieser Musik eben nicht der Muff eines traditionellen und irgendwie verschundenen Instrumentalklangs. Diese Musik war „modern“, es war „moderne Musik“. Und „moderne Musik“ war – im Gegensatz zur „Neuen Musik“ – ein Begriff, der für populäre Musik eine Bedeutung hat, insbesondere im angloamerikanischen Bereich. In musikpsychologischen Umfragen jener Zeit wurde in der Jugendkultur „moderne Musik“ von den Befragten oft genug der Rock- und Popmusik zugeschrieben. Doch das allein genügt nicht zur Erklärung, sonst könnte auch einem Herbert Eimert diese Ehre der Pioniertat zuteil geworden sein. Gleichzeitig ist es bei Stockhausen die radikalisierte Poetik der Artikulationen selbst, die mit Vorder- und Nachsatz Schluss macht wie mit der restlichen traditionellen Formensprache. Diese „Neuheit“ von Klängen wird zum Klang des Fortgeschrittenen schlechthin, zum ratzekahlen und radikalen Neuanfang aus dem Bruch heraus; einer Randexistenz, eines Outsiders, eines gesellschaftlich Abgeschobenen – geradeso wie auch Freud und Einstein Pop wurden.
Als Stockhausen dann Ende der 60er-Jahre in die Räucherstäbchen-Abteilung der neuen Musik wechselte, mit seiner „Stimmung“ oder der „intuitiven“ Musik „Aus den sieben Tagen“ hatte er einmal mehr mit gewissen orthodoxen Strömungen der Neuen-Musik-Szene gebrochen. Da war außen ein Anknüpfungspunkt für etwas wie Selbsterfahrungskunst gegeben. Mit anderen Worten, bei Stockhausen, ähnlich wie bei John Cage, spielten Aspekte der Verknüpfung von Musik und Leben eine herausragende Rolle. Die Einschließung der Lebenswelt in den Kunstbetrieb wurde zum ästhetischen Zentrum.
Und es erging auch der Gattung Oper ähnlich. Während hier im bürgerlich-traditionellen Musikbetrieb die Regie das Zepter an alte Stoffe anlegte, hat Stockhausen seine Oper fast schon im Stil einer durchkonstruierten Rock-oper gedacht, die in die Zukunft weist. Leben und Musik fallen in „Licht“ dicht aufeinander und gelangen gelegentlich zur Deckung.
Stockhausens Werk und er selbst mögen somit ein bisschen wie die Iteration von Avantgarde in Popkultur wirken, zumal, wenn man das Begriffsfeld Pop in eine schlüssigere gegenwärtige Kulturverbrauchseinheit umrechnet, diejenige der (auch neuen) „Medien“ nämlich. In dieser Welt war Stockhausen präsenter als seine Kollegen. Noch die relative Abgeschiedenheit der Lebensexistenz in Kürten mag zu diesem Bild beigetragen haben. Manchmal, man merkt es vielleicht nicht einmal, auch ganz konkret, wenn Holger Czukay schreibt, dass einige DJs Stockhausens „Kontakte“ in ihr Programm integrieren (holger czukay, karlheinz stockhausen‘s influence on today‘s electronic music)
Zuerst erschienen in: nmz: 2/2008 – 57. Jahrgang