Deutschland scheint infolge der Bologna-Reformen geradezu ein Mekka für exotische Studiengänge geworden zu sein. Fast alles lässt sich studieren. Da mag es den einen oder anderen überraschen, dass es in Deutschlands Universitäts- und Hochschullandschaft keine eigene Ausbildung zum Chorsänger gibt. Dass dies an der Hochschule vernachlässigt wird, stellte bereits der ehemalige VdO-Geschäftsführer Stefan Meuschel im Musikmagazin des Bayerischen Rundfunks „taktlos“ zum Thema Chorsänger im Jahr 2003 fest: „Ich glaube, es gibt ein Kernproblem beim Gesangsunterricht: Es ist ja doch ein Lernberuf und kein wissenschaftlicher Beruf. Deswegen müsste bei der Ausbildung viel mehr Wert darauf gelegt werden, dass sie a) im Zusammenhang mit der Praxis steht und dass sie b) zielorientiert auf das hin erfolgt, was dem Sänger abverlangt wird.“
David Stingl, Sänger im Rundfunkchor Berlin: „Es gibt ein paar Chorstudiengänge in Deutschland, das läuft aber meistens nicht so ideal. Denn bei vielen Hochschullehrern lässt sich die Einstellung beobachten, dass Chorsänger Sänger zweiter Klasse sind. Chorgesang hat an vielen Hochschulen leider einen eher schlechten Ruf. Das Problem: Man kann an Hochschulen zwar solistisch bereits früh Erfahrungen in Opernproduktionen machen. Aber man kann dort nicht die Erfahrung machen, wie es ist, in einem wirklich guten Ensemble zu singen. Die Hochschulchöre können das nicht leisten.“ Sören von Billerbeck, ebenfalls Sänger im Rundfunkchor Berlin, sieht es ähnlich: „Der Beruf der Rundfunkchorsängerin, des Rundfunkchorsängers hat immer noch ein schlechtes Image.“
Die professionellen Chöre leiden unter Sängermangel. Die Anforderungen eines Rundfunkchores beispielsweise sind so hoch, dass viele freie Stellen nicht besetzt werden können. Insbesondere zweite Bässe, hohe Tenöre, hohe Soprane und tiefe Altstimmen seien Mangelware, sagt Sören von Billerbeck. „Es ist ja nicht so, dass ein verkappter Solist in den Rundfunkchor geht. Anders herum wird ein Schuh draus“, erklärt Chorleiter Michael Gläser in der genannten „taktlos“-Sendung. „Wir brauchen Kolleginnen und Kollegen, die perfekt als Chorsänger ausgebildet sind. Sie müssen vielen Anforderungen gerecht werden: Sie müssen sehr musikalisch sein, sehr gut vom Blatt singen und sehr viele stilistische Richtungen beherrschen. Und deshalb ist es schwierig, wirklich gute Leute zu finden.“ So verwundert es nicht, dass man auch im Chorbereich endlich Nägel mit Köpfen macht. In Berlin, angesiedelt beim Rundfunkchor, wurde dieses Jahr im März eine Chorakademie ins Leben gerufen.
Worum geht es dabei? Die Ausbildung in der Chorakademie dauert ein halbes Jahr. Angesprochen werden Sängerinnen und Sänger noch vor Abschluss ihres Studiums, aber nach Erreichen der Zwischenprüfung. Für die Akademie müssen sich die Akademisten ein Urlaubssemester genehmigen. In diesem Semester laufen sie bei der ganz normalen Chorarbeit mit; jedoch nicht als „billige Arbeitskraft“ oder als Konkurrenz zu freien Chormitarbeitern – Konzertieren ist zunächst tabu. Man darf sich die Akademie aber nicht übermäßig akademisch vorstellen. Die jungen Sängerinnen und Sänger werden von einem Mentor betreut, der aus ihrer Stimmgruppe stammt. Ansonsten lernen sie bei der Arbeit eben alles, was man zum Chorsingen können sollte. Das reicht vom Interpretieren der Musik über das Partiturlesen bis zum Interpretieren von Dirigentenschlagbildern. Ferner bietet die vollwertige Mitarbeit in einem professionellen Rundfunkchor die Möglichkeit, Chormusik auf höchstem Niveau zu betreiben. Neben dem Kennenlernen von renommierten Chordirigenten stehen den Akademisten auch die Erfahrungen der 63 ständigen Chorsängerinnen und -sänger zur Verfügung. Im Rundfunkchor lernt man zudem eine vielfältige Literatur kennen. Gesungen wird hier Chormusik aller Zeiten. Hinzu tritt unter Umständen eine CD-Produktion oder Ähnliches. Und neben der Musik wird man Erfahrungen mit dem „Wesen“ des Chores an sich machen. Ein Chor ist ein soziales Gebilde, bei dem der Gesamtklang entscheidend ist – und das funktioniert nur im Kollektiv; beim gemeinsamen Singen müssen es 63 Freunde sein. „Ich denke, dass ein Chor nur so gut klingt, wie er sich miteinander versteht. Es geht um die Bereitschaft miteinander zu musizieren, und das setzt voraus, dass man auch menschlich miteinander möchte und kann“, so Michael Gläser. Ähnliche Anforderungen existieren musikalisch übrigens auch im Opernchor, meint Sören von Billerbeck. An der Akademie lerne „man schnell Musik“, gemeinsames Singen – und das in hohem Tempo, so dass der Besuch dieser Akademie auch für den Opernchor schule.
Für die Zeit des Akademieaufenthaltes erhalten die Akademisten eine monatliche Entschädigung von 400 Euro. Nach acht Wochen gibt es die Möglichkeit, die „Konzertreife“ zu erwerben. Das wird in einem Gespräch mit dem Chefdirigenten und dem Mentor entschieden. Sollte der Akademist die Konzertreife erreichen, ist für ihn nicht mehr vor der Generalprobe Schluss. Er darf dann auch im Konzert mitsingen. Das hat auch finanzielle Vorteile für den Akademisten, denn er kommt dann in eine andere Vergütungsstruktur. Sollte er nach acht Wochen noch nicht so weit sein, besteht auch später wieder die Möglichkeit, die Konzertreife unter Beweis zu stellen.
Unakademisch ist auch der Abschluss. Die Teilnehmer erhalten eine Urkunde – es handelt sich also nicht um ein staatliches Zertifikat. Gleichwohl dürfte Akademie-Teilnehmern allein die halbjährige professionelle Mitarbeit in einem weltweit hochgeschätzten Ensemble genügend Impulse und wertvolle Erfahrungen gebracht haben, dass sie nach Erlangen des Abschlusses ihrer künstlerischen Ausbildung an einer Musikhochschule besser vorbereitet sind auf das, was man hier tatsächlich „Vorsingen“ nennen darf.
Einen Wehmutstropfen aber gibt es. Pro halbjähriger Akademiepräsenz ist nur Platz für vier Akademisten. Der Eintritt erfolgt gleitend und ist nicht auf bestimmte Zeitpunkte fixiert. Im Moment haben sich 30 Bewerbungen angesammelt, sagt Sören von Billerbeck, der den Aufbau der Akademie mit konstruiert hat. Billerbeck hegt aber die Hoffnung, dass andere Rundfunkchöre auf den gleichen Zug aufspringen werden und es dem Rundfunkchor Berlin nachtun. Eine Anbindung an die Hochschulen ist auch geplant. Erste Kontakte, so Billerbeck, seien gemacht, und man sei dabei auf offene Ohren gestoßen. Doch leider scheint das Unterfangen immer noch schwierig. „Bewerber der Akademie berichten schon einmal, dass sie gefragt worden seien: ‚Was, Du willst zum Rundfunkchor? Ich denke, du willst Sänger werden!‘“, erzählt Sören von Billerbeck.
Zuerst erschienen in Oper & Tanz 2011/04