21. November 2024 Guten Tag, everybody

Jenseits des Betriebs und mittendrin: ein Nachruf auf den Komponisten und Autor Hans G Helms

Der 1932 in Teterow (Mecklenburg) geborene Musiker, Komponist, Autor und Sozialforscher gehörte zu den erstaunlichsten Vertretern des deutschen Kulturbetriebs, zu dem er selbst nicht zu zählen ist. Und zu einer Generation von Menschen, deren Lebenslauf durch den zweiten Weltkrieg ihr Leben lang in einer abenteuerlich-mäandernden Schleuderform verlief – so wie beispielweise auch bei Claus-Henning Bachmann (*1928), Heinz-Klaus Metzger (1932-2009), Paul Moor (1924-2010) oder Hans Heinz Holz (1927-2011). Helms‘ Lebenslauf ist in dieser Hinsicht jedoch extrem.

Nach dem Krieg lebte Helms zunächst außerhalb Deutschlands, das er bis 1957 jeweils nur kurz betrat. In Schweden und Österreich „wirkte“ er zunächst als Saxophonist, nahm Unterricht bei Hans Koller und spielte gar mit Charlie Parker zusammen. Zugleich beginnt er damit, sich mit der Musik von Charles Ives auseinanderzusetzen und schreibt für den Hörfunk. Auf USA-Reisen kommt er in Kontakt mit den aktuellsten Formen der Literaturanalyse bei Roman Jacobsen. Das Saxophonspiel gibt er 1954 auf. Ab 1957 lebt Helms in Köln, wo er ganz eng mit der musikalischen Avantgarde um das elektronische Studio des WDR zusammentrifft. Ein Zirkel um Helms, dem Gottfried Michael Koenig, Heinz-Klaus Metzger, György Ligeti, Mauricio Kagel und Franco Evangelisti angehören, bildet sich. Er selbst komponiert auch und verfasst „Fa:m’ Ahniesgwow. Experimentelles Sprach-Musik-Komposition/Hörspiel“, das 1959/60 bei DuMont erscheint und erstaunlicher- aber nicht verwunderlicherweise von Adorno in einem Beitrag zur Literatur mit dem Titel „Voraussetzungen“ untersucht wird. Mit Hans Otte erarbeitet er im Team „Daidalos“. Filmische Auseinandersetzung mit Werken der neuen Musik folgen, wie zum Beispiel BIRDCAGE mit John Cage.

Hans G Helms: Fetisch Revolution, Luchterhand
Hans G Helms: Fetisch Revolution, Luchterhand

In den 60er Jahren kommt die theoretische, philosophische und sozialwissenschaftliche Arbeit in sein Blickfeld. Zunächst wendet er sich in einer Arbeit über Max Stirner der Philosophie zu, die ihn fast notwendig zum Marxismus führt. Mitten in die 68er-Kapriolen veröffentlicht er bei Luchterhand die bemerkenswerte Aufsatzsammlung „Fetisch Revolution“, die sich mit der Marx-Rezeption der Köpfe der deutschen und europäischen Studenten (Cohn-Bendit, Dutschke, Rabehl) bis ins Kleinste auseinandersetzt und auch mit Kritik an Marcuse und Adorno nicht spart. Gepaart wird dies im positiven Sinn polemische Analyse der Geschichte der Marxrezeption in Westdeutschland (oder wie Helms durchgängig schreibt: BRD). Helms gehört auch in seinen philosophischen Analysen zur Avantgarde, aber doch zu einer, die sich auf dem Boden tummelt.

Die Kritik und Analyse des Kapitalismus wird fortan bis an sein Lebensende die andauernde Figur, mit der sich sein Denken und Schreiben befasst. Und Helms untersucht den Kapitalismus dort, wo er sich am ausgeprägtesten zu zeigen scheint, in den USA (1978-1989). Er studiert den kapitalistischen Städtebau und setzt sich ab 1975 mit den Auswirkungen der zunehmenden Computerisierung auseinander. Über die Veränderungen der Städte in Deutschland schreibt er auch noch in den 90er Jahren und danach. Das Verständnis der beiden Welten drückt sich beispielsweise in seinem Rundfunkbeitrag über Michael Gielen aus. Gielen arbeitete in den 80er Jahren in zwei unterschiedlichen kapitalistischen Systemen: Beim privatwirtschaftlich organisierten Orchester in Cincinatti und an der Frankfurter Oper in der sozialwirtschaftlichen BRD. Im Gegenüber der Arbeits- und Produktionsbedingungen erkennt er die verschiedenen Formen von Zurichtung von Kultur sowie der Umgang eines Künstlers mit diesen Phänomenen.

Das ruft Ekel hervor

Zurück in Deutschland, ab 1989, geht Helms zunächst nach Köln, später nach Berlin. Er veröffentlicht zahlreiche Aufsätze in „Junge Welt“, die von Buchrezensionen bis zu Gesellschaftsanalysen reichen. Und er arbeitet auch wieder künstlerisch. 2001 erscheint in der von Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn herausgegeben Buchreihe Musik-Konzepte der Band 111, in dem die Herausgeber Artikel von Helms unter dem Titel „Musik zwischen Geschäft und Wahrheit“ versammeln. Sie leiten es ein mit den bemerkenswerten Sätzen: „Das hier vorgelegte Heft ist antizyklisch … . Zunächst fällt auf, daß es sich gegen den Zyklus der intellektuellen Moden richtet. Nach dessen Maßgabe haben derzeit marxistische Analysen keine Konjunktur, denn sie vertreten weltpolitisch nicht das siegreiche Lager, sondern beleuchten es: Das ruft Ekel hervor.“

Musiktexte 111: Hans G Helms. Musik zwischen Geschäft und Unwahrheit
Musiktexte 111: Hans G Helms. Musik zwischen Geschäft und Unwahrheit

Helms befasst sich in diesem Band insbesondere mit dem Wirken der GEMA, vor 1945 und danach (Musik nach dem Gesetz der Ware, 1973) und geht zum Beispiel den sozioökonomischen Bedingungen in der Neuen-Musik-Szene nach (Festivals für neue Musik, 1972). Der Aufsatz zur GEMA führte zu einem Schlagabtausch mit dem Generaldirektor der GEMA, Erich Schulze.

In seiner Einleitung aus dem Jahr 2000 stellte Helms fest: „Die Oligopolisierung der Musikkonzerne und das Internet schmälern generell die Einkünfte der Komponisten aus der Vermarktung ihrer Produkte. Beiden überschwemmen den globalen Musikmarkt mit Klangartikeln, die ihre Erzeuger zum kostenlosen Genuß oder kostenlosen Kaufanreiz ins Internet stellen. Wer als Komponist weiter seine Brötchen und womöglich auch noch ein bißchen Aufschnitt verdienen will, steht unter dem Druck, sich in dieser global erweiternden massenhaften Konkurrenz zu behaupten. … Mögen die GEMA-Einnahmen, die 1999 mit gut 1,5 Milliarden DM zu Buche schlugen, mit dem Internet steigen, die Zahl der Tantiemenkassierer nimmt noch flinker zu. Was für die Großmeister der Moderne Vermehrung ihrer Einkünfte bedeutet, wird die Kleinmeister noch weiter in die Verarmung treiben und ihren Zutritt zur Gilde der Bezugsberechtigten erschweren.“ (Helms, Musik zwischen Geschäft und Unwahrheit, Einleitung, S. 10).

Unterdessen arrangiert man sich im System, das gewonnen hat, denn die Alternative wird gar nicht mehr gesucht – oder nur ganz selten. Im Gegenteil, das herrschende System gaukelt eine Befriedigung für alle vor. Die auftretenden Löcher werden eilends und zum Schein mit notdürftigen Initiativen gestopft, temporär versteht sich. Wer über die Klinge springt, ist selbst Schuld und gilt bestenfalls als Spielverderber. Das klingt alles nach Helmut Kohls Rede vom 1. Juli 1990: „Es wird niemandem schlechter gehen als zuvor – dafür vielen besser.“ Wer’s glaubt …

Der Journalist Florian Neuner fragte 2003 Helms in der Zeitschrift „Steinschlag“: „Manövriert sich der globale Kapitalismus in eine finale Krise oder ist das ein Zustand, der sich noch auf Jahrzehnte weiter fortspinnen kann?“ Helms antwortete: „Ich fürchte eher das Letztere und bin nicht einmal sicher, daß es sich nur um Jahrzehnte handelt. Es kann auch noch ein ganzes Jahrhundert andauern. Wenn man sich beispielsweise überlegt, wie der Kapitalismus von einer kapitalistischen Entwicklung Chinas, des ehemaligen Rot-China, oder auch Indiens oder der ehemaligen Sowjetunion, profitiert, wie sich das alles positiv für das Großkapital entwickeln könnte, dann glaube ich nicht, daß wir schon vor dem Ende des Kapitalismus stehen. Ich würde mir das aber wünschen.“ („Es ist doch viel wichtiger, sich mit der Basis zu beschäftigen“ – Berliner Stadtzeitung Steinschlag)

Solche Gedanken durfte sich Helms, der niemals einem ihn lenkenden Arbeitgeber unterstand, machen. Seine Freiheit des Denkens hat er sich über all die Jahre erhalten, als theoretisch und künstlerischer Wandler zwischen den Welten, immer auf der Basis arbeitend und nie einer Institution hörig.

In seinem Rundfunk-Feature über Helms von Kurt Kreiler kommt Mary Bauermeister zu Wort. Sie beschreibt Helms dort so: „Er ist ein Pazifist, er lebt es durch und durch. Sie werden Helms nicht aggressiv erleben, Sie werden ihn manchmal traurig und enttäuscht erleben, das ist das Maximum. Er wird nicht irgendetwas fordern von einem andern, nur von sich selber. Also da ist er – fast weise. Cage war ähnlich. Das ist fast eine Form von Weisheit, dass man nur sich selber was abfordert, aber nicht den anderen. Dass man zwar ein Ideal hinstellt, so könnte die Gesellschaft funktionieren, aber es nicht fordert.“ [Kurt Kreiler: Der Sozialist und das Saxofon. Feature, Deutschlandfunk, 15. September 2009 ]

Am 11. März 2012 verstarb inHans G Helms in Berlin-Friedrichshain.