Komponistengeburtstage sind in der Regel Anlass für Ehrung und Rückschau. Personen und ihr Werk erfahren eine Aktualisierung, werden neu gedacht. Obwohl John Cage 20 Jahre tot ist und in diesem Jahr seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte, sind derlei Betrachtungen unnötig. Cage und sein Schaffen leben – er und es haben das Musikleben unbestritten nachhaltig verändert. Cage ist nicht vorbei.
Nicht zu verkennen ist dabei, dass Cage und seine Musik im heutigen Leben nach wie vor zwar eine bedeutende Rolle spielen, dass aber das Werk sich eigenartig transformiert hat. Sieht man sich um, wer zu den Veranstaltungen mit Cages Musik oder mit Cage-affinen Inhalten geht, so finden sich vor allem ältere Personen oder ganz junge Leute dazu ein. Grau oder kindblond ist die Haartracht geworden. Es sind die Menschen, die mit der Musik von Cage groß geworden sind, Menschen, die diese Musik noch aus erster Hand erlebt hatten. Menschen, die diese Musik noch im Zusammenhang eines geschlossenen Musiklebens der „Tonkunst“ als Ausbruch erlebten und diesen mitvollzogen. Die Generation dazwischen hält Abstand zu Cage, hält ihn für bedeutend, aber unwichtig – oder umgekehrt. Für sie ist, von Ausnahmen abgesehen, Cage passé; dabei sind es eher die Bedingungen der Musikästhetik und des Musiklebens, die sich gewandelt haben. Und zwar, weil Cage sie mit seinen Stücken schlicht und einfach umgeworfen hat – davon profitiert die mittlere Generation, zu Dank verpflichtet ist sie selbstverständlich nicht.
Stille und unendliche Variation
Cage überschritt mit seinen Werken zahlreiche Grenzen musikalischer Aktivität. Sei es das legendäre 4‘33“ von 1952 – das Stück, welches sich dem subjektiv produzierten Selbstklingen radikal entgegen stellte: durch Schweigen. Der Gang durch das Nichts schien unausweichlich, um den Platz für das „Etwas“ freizusetzen, das bislang hinter der Musik im Dunkeln blieb. Es ist dieser totale Leerraum, der zum Zeitpunkt seiner Entstehung mehr in Bewegung brachte, als es die ausgeklügeltste Musik-Poetik oder -Ästhetik je vermochte. Das Stück ist ein Unikum, beispiellos und unwiederholbar als „Werk“.
Auf der anderen Seite findet sich ein Stück wie die Variations I (1958) – als Vorlage dienen fünf Folien mit Linien und Punkten. Das Stück enthält nach den Worten des Musiktheoretikers Heinz-Klaus Metzger jedes erklungene und auch noch nicht erklungene Stück Musik potenziell in sich. Es ist darum ein Nicht-Werk und das totale Werk zugleich.
Weil sich mit derlei Verfahrensweisen die Kompositionen in dauerhafte „Werke“ fixieren lassen, fragte sich der eine oder andere, ob es sich hier noch um Musik im emphatischen Sinn handele oder nur um „Ideen“. Der Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus subsumierte diese Musik daher unter den Begriff der „Antikunst“. Ideen seien keine Musik und sie transformieren die Cage-Sache in den Abhub des Mythos. Einen Mythos, in dem man sich geradezu beliebig austoben kann, den man für jede x-beliebige ästhetische oder auch politische Anschauung reklamieren kann. Das ist natürlich verdächtig.
Musik als Leben
Für den Komponisten Claus-Steffen Mahnkopf ist Cage „der Liebling derer, die von Musik nichts verstehen“. Mahnkopf hat dabei diejenigen Fans von Cage im Visier, die sich über seine „Musik“ einen Zugang gelegt glauben: „Sie begehren die Teilnahme an dem Chic und dem Modischen, dem Flair der guten alten Zeit, als ‚neue‘ Musik noch wahrhaft Avantgarde war und die Wurzel der Gesellschaft herausriss.“ Die vergiftete Verteidigung von Mahnkopf verfehlt aber ihrerseits ihr Ziel. So wahr es ist, dass Cage und sein Werk eine Projektionsfläche für unterschiedliche Inanspruchnahme sein mag, als musikpädagogische Lehrplan-Musik ebenso wie für den meditativen Klangflaneur, der an gezupften Kakteen orangensafttrunken sich labt, für den Revolutionsnachbauer ebenso wie für den Musikbetriebsstörer. So wahr ist aber auch, dass dieser Gebrauch der Musik von John Cage eben nicht zum Brauchtum sich degeneriert, sondern zuallererst zum Experimentierfeld musikalischen Verhaltens an sich wird. Man wird Bestandteil der Musikentstehung selbst, wenn man Cage-Stücke, die nach 1950 entstanden, aufführt – die Trennung zwischen Produzent und reproduzierendem Rezipienten hat Cage zur Disposition gestellt. In diesem Moment wird es unerheblich, ob sich dabei „große Kunst“ einstellt; oder: ob die erzeugte Musik, sei’s politisch, sei’s ästhetisch „funktioniert“. Sie tritt ein in das außermusikalische Leben und überbrückt die Sphären.
Durchdringung der Sphären
„Cages Antikunst … ist als Protest gemeint“, schreibt Carl Dahlhaus. Aber sie geht nicht darin auf. Der Protest ist eher ein mitlaufendes Derivat von Cages Umbau im sonst so festen Gehäuse des musikalischen Lebens, das sich in der Konvention der Genieästhetik auch heute noch verankert sieht – und zwar nicht nur im klassischen Bereich, sondern ebenso in Pop, Jazz und Rock. Wie tief Cage in das Musikantentum eingetreten ist, zeigt sich gerade auch in diesen Bereichen. Mittel- oder auch unmittelbar hat seine Destruktion des Kunstwerkbetriebs auch hier ihre Früchte getragen. Mit der Initiative „Cage Against the Machine“ haben englische Popmusiker (unter anderem Billy Bragg und Pete Doherty) den Versuch unternommen, 4’33’’ gegen den quasi automatisierten Erfolg eines Hits aus der X-Factor-Show zu setzen. Weihnachten 2010 sollte wirklich zur stillen Nacht werden. Das Ziel wurde nicht erreicht, aber man kam unter die Top 100 und nahm 16.000 englische Pfund ein, die an soziale Initiativen verteilt wurden, unter anderem an die „British Tinnitus Association“.
Es dürfte es kaum jemanden geben, der nicht in irgendeiner Art und Weise schon einmal mit Cage und seinem Werk in Berührung gekommen ist, ohne daraus irgendetwas mitgenommen zu haben. Cage lässt einen für gewöhnlich einfach nicht kalt. Von welchem Komponisten der jüngeren Gegenwart könnte man gleiches behaupten?
Unterwerfung und Entspannung
Zur Problematik der Werke von John Cage gehört es, dass man sich als reproduzierender Musiker bisweilen auf eine Instruktionskanonade einlassen muss, deren einziges Ziel eine Art „musikalischer Rousseauismus“ ist, wie Dahlhaus es bezeichnete. Dass nämlich nicht der Komponist sich das Erklingende unterwirft, sondern sich eigenartigen Zufallsoperationen unterwerfen muss. Wenn diese sich gegenseitig durchkreuzen, erreicht man tatsächlich eine gewisse Loslösung vom subjektiv musikalisch Gewollten, von dem Genie, das Kunst „macht“. Hier tut sich eine technische Schwierigkeit auf – denn dieses Ziel ist quasi nicht erreichbar, es sei denn der Mensch verhält sich maschinisch-natürlich. Nur, warum sollte er auf dieses Spiel eingehen? Und umgekehrt: Hat er die „richtige“ Einstellung, bedarf es nicht derartiger Instruktionen, um ein ähnliches Ergebnis zu erreichen, nämlich, Klänge Klänge sein zu lassen. Folglich scheitern überproportional viele Kompositionen von Cage während ihrer Realisation.
Cage hat an diesem Punkt seine Grenze wie übrigens ja jede andere Musik auch. Die Tatsache, dass Teile seiner Musik endlose Möglichkeiten der Realisierung enthalten, heißt nämlich nicht, dass auch alles geht, was geht. Man kann die Musik von Cage auch schlecht aufführen.
Cage hat genügend Versuche unternommen, die dem Spieler die Arbeit der Unterwerfung unter Zufallsoperationen abnehmen und die in fixierten Notentexten resultieren. Wirklich sinnlose Musik kommt dabei heraus, der man aber das Gemachtsein anhört und die dadurch nichts anderes ist als öd und leer. Gleichwohl gibt es aus der mittleren Zeit zwischen (1950 und 1975) genügend Stücke, die vor allem erst heute tatsächlich am Punkt ihrer Verwirklichung stehen. Sie entspannen das Verhältnis zwischen Klang und Gehör.
Man kann es an vielen Orten sehen, mit welcher geradezu glücklichen Beteiligung Hörer in das Klanggeschehen eintauchen, das sich um sie öffnet. Noch der gerade erklingende Ton aus Organ2/ASLSP, das über 639 Jahre in der Sankt-Burchardi-Kirche in Halberstadt läuft, setzt offene Ohren in heroisch andächtige Ruhe. Der Protest entspannt sich. So erscheint es, dass erst heute, nachdem die Revolution der Musik durch Cage eingeleitet wurde, sie sich selbst den Boden zu ihrer Verwirklichung bereitet hat. Sie muss nicht mehr durchgekämpft werden, sie muss nicht mehr verwundern, sie muss nicht mehr „bewiesen“ werden. Sie ist angekommen. Cage hat diese Veränderung nicht allein bewirkt. Neben seinen Mitstreitern wie David Tudor haben auch viele Komponisten daran teil, die ganz offen den Einfluss Cages bestätigen. Zu nennen sind beispielsweise Dieter Schnebel, Cornelius Cardew, Peter Michael Hamel, Nam June Paik, Christian Wolff: weniger Noten, mehr Lebensmusik.
An diesem Punkt ist allerdings längst nicht Schluss. Denn die Zeiten haben sich geändert und auch die Umstände. Das Werk eines Johannes Kreidler beispielsweise geht diesen Weg auf seine Art und Weise weiter. Kreidler ist dabei ganz daheim bei der Verwendung aktueller Medienwelten. Ähnlich Christoph Schlingensief im Theaterbereich oder Christoph Theiler und Renate Pittroff mit ihrer Oper „Re-Entry“ am Stadttheater Oldenburg 2010 oder die Klangexpeditionen in der „freien Natur“ wie bei Zoro Babel, Daniel Ott, Kirsten Reese, Erwin Stache und Enrico Stolzenburg. Dafür schlägt manchem von ihnen wie vormals John Cage einiger Widerstand entgegen. Aber das macht die „Kunst“ umso reichhaltiger.
Zuerst erschienen in: nmz 2012/09