Wir wissen noch nicht genau, was gerade passiert. Wir wissen nur, dass etwas passiert. Die Veränderungen, die mit der Digitalisierung der Musik, ja, mit der Digitalisierung der Kultur überhaupt einhergehen, sind – unbestritten – umfassend. Ob sie auch grundlegend sind, so dass man von einer Revolution sprechen kann, darüber lässt sich streiten. Genau das tat man bei der Jour Fixe der Berliner Gesellschaft für Neue Musik in der Galerie Mario Mazzoli.
Der Philosoph Harry Lehmann analysiert die Veränderungen, die die zunehmende Digitalisierung der Musik auslösen, mit einem vielschichtigen Theoriegebilde für deren theoretische Ansicht ein großer Brocken von Methoden herangeholt wird. In deren Zentrum stehen Theoriemodelle von Michel Foucault wie Niklas Luhmann. Kurz zusammengefasst: Der starken Institutionalisierung der Musik mit festen Karrierewegen, die Wissen und Gegenstand der neuen Musik eingefroren haben, stehen nun lauter für viel mehr Menschen geöffnete Wege zur Teilhabe zur Verfügung. Die alten Institutionen wie Akademien, Verlage, Ensembles und Festivals, die ein wohl komplexes, aber eng verzahntes Gebilde darstellten, werden abgelöst durch Öffnung in ein Netz; sämtliche alte Institutionen finden ihren Widerpart in der digitalen Welt, nur sind die Schranken der Beteiligung heruntergefahren. Neben die Verlage treten beispielsweise Öffentlichkeiten, wie sie sie sich über Blogs zum Beispiel bilden. An Stelle von Ensembles treten sogenannte ePlayer – virtuelle Orchester, gebildet aus Soundbibliotheken. Und neben Akademien als Bildungsstätten treten individuelle Karrieren, nicht zuletzt durch die Möglichkeit, ehemals kostenintensive Apparate zur Herstellung von Musik (Software) einzusetzen. Der spekulative Raum der Möglichkeiten wird breiter. Kurz gesagt: Es findet eine Entinstitutionalisierung der Musik statt. „Die Digitalisierung führt in dieser Hinsicht zu einer weitgehenden Demokratisierung der Neuen Musik – aus einer Kunst der Wenigen wird eine Kunst von Vielen, die jeden erreichen kann, der einen Internetzugang besitzt,“ schrieb er in der schweizerischen Zeitschrift „dissonance“ unter dem Titel „Digitale Infiltrationen“. (Quelle: dissonance)
Ästhetische Wende
Das ist die eine Seite. Die andere betrifft die Veränderungen im Bereich der Ästhetik. Hier sieht Lehmann eine Entwicklung, von einer Materialästhetik hin zu einer Gehaltsästhetik. Was heißt das? Für Lehmann steht die bisherige Entwicklung der neuen Musik unter dem Begriff der Entwicklung des musikalischen Materials – wie er sieht symptomatisch bei Adorno ausgeprägt sieht. Immer mehr neues Material stellte neue Werke her. Für Lehmann ist diese Entwicklung an ein Ende gelangt. Das Material erschöpft sich, nachdem es bis an die Grenzen seiner Möglichkeiten geführt wurde. Die neue Musik habe bislang im wesentlich sich einer Idee der „Absoluten Musik“ verschrieben.
Die Lösung bringe dagegen eine gehaltsästhetische Wende, wie er sagt, oder die Variation des alten in neuen Gewändern (als Alternative, die er beispielsweise in der Musik von John Adams findet). Diese Alternative favorisiert Lehmann jedoch nicht. In der Zeitschrift dissonance führt er dazu aus:
„Eine gehaltsästhetische Wende ist für die aus den Institutionen freigesetzten Komponisten schlichtweg ein Kommunikations-Apriori. Indem sie die für die Neue Musik so charakteristische Kluft zwischen «Kunst» und «Leben» gehaltsästhetisch überbrücken, können sie das Erbe der historischen Avantgarde in einem viel stringenteren Sinne antreten, als es die Generation von Stockhausen bis Lachenmann je vermocht hat. Wie jede avancierte Kunst, war auch deren Musik konzeptionell, nur dass es sich hierbei um Musikkonzepte handelte, die primär der Organisation des musikalischen Materials dienten und den Weltbezug ihrer Musik in einer oft theoretisch abstrakten, zum Teil auch hermetisch spekulativen Sprache in ihren Komponisten-Ästhetiken abhandelten. Die Konzepte der gehaltsästhetisch orientierten Neuen Musik hingegen konfigurieren konkret die Lebensweltbezüge der Musik und sind deswegen im Prinzip auch für ein Publikum anschlussfähig, das nicht selbst schon einen langjährigen Sozialisierungsprozess in den Neue-Musik-Szenen durchlaufen hat.“ (S. 8 f.)
An Stelle der Idee der absoluten Musik setzt er in seiner Musikphilosophie den Begriff der relationalen Musik. Zum Thema Neuheit und Gehalt, hier ein Ausschnitt aus einem Interview, dass der Autor mit Harry Lehmann im Anschluss an die Veranstaltung führen konnte.
Widerspruch
Lehmanns Thesen blieben nicht unwidersprochen. Von Seiten der anwesenden Komponisten und Interpreten schlägt ihm dabei mehr oder weniger deutlich Ablehnung entgegen. Sie sehen diese Wende oder gar Revolution nicht. Die Institutionalisierung der Neuen Musik sei nach wie vor fest wie nichts anderes. Dass man auf YouTube lernen könne, wie man komponiere, scheint abwegig ebenso wie man die „gehaltsästhetische Wende“ nicht als „die“ Zukunft wahrnehmen will. In der Tat scheint es nicht ausgemacht, ob sich im Bereich der Neuen Musik wirklich ein ähnlicher Prozess vollziehen wird, wie er beispielsweise in der Photographie unabweislich längst Realität wurde. Wenn man sich die Bilderarchive verschiedener Foto-Communities wie bei Flickr oder 500px durchforstet, werden die Grenzen zwischen der ehemals professionellen Fraktion und der der „Amateure“ immer weniger sichtbar und kehren sich teilweise sogar um; wie eine Stimme aus dem Publikum meinte, weil die Amateure zum Teil übrigens auch schon das bessere Equipment hätten. Die Neue-Musik-Szene dagegen scheint recht eng in ihrer Beweglichkeit.
Natürlich bringt die Öffnung zur Nutzung von Produktionsmitteln eine Vergrößerung der Teilnehmer mit sich und damit auch eine Verstärkung, oder eher Vermehrung des Mittelmaßes. Das war bei jeder Öffnung von Technologie der Fall. Und das Maß der Unsicherheiten der Lebensentwürfe wird sicherlich ebenso steigen.
Man darf Lehmann Musikphilosophie nicht missverstehen: Sie baut mit ihren eigentümlich binären Strukturen der Weltansichten (hier Institution, dort das freie Netz; hier das Material, dort der Gehalt) die Positionen wie guten alten Typologien auf – so dass Ausnahmen zwangsläufig „gegen“ die Analysen Lehmanns zu sprechen scheinen. Gleichwohl erfasst er mit den hier genannten Aspekten doch mehr als man hoffen durfte. Er bringt theoriegesättigtes Licht in die nebulöse Rede von den Veränderungen durch die Digitalisierung der Kultur. Das ist gut!
Die Unruhe des Nebels
Doch Lehmanns Werkzeuge sind nicht immer so fein wie es nötig wäre. Hier zu viel Licht einzusetzen, ist auch nicht immer von Vorteil. Es verschwinden dann die feine Differenzierungsgrade moderner Gesellschaften und der Musik auch. Das starke Licht in den Nebel führt zu einem Widerschein, der sich selbst reflektiert und damit unter Umständen zurückblendet. Der erhellte Nebel wird dann noch undurchsichtiger.
Sein Blick in die musikalische Vergangenheit, weist, wie an einigen Stellen bemerkt wurde (Gordon Kampe auf Facebook), faktische Fehler auf. Der Blick in das Gebilde der Zukunft, wie sie die Gegenwart andeutet, bleibt spekulativ. Das Netz und die Institutionen, beide verwandeln sich beständig, so dass es schwer fallen muss, einen Schnitt der Analyse in beide hineinzulegen. Auch in der entinstitutionalisierten Welt, die ja die Institutionen nicht abgelöst hat, gibt es viele Variablen, die auf sie einwirken – und seien es nur Gesetzesänderungen im Bereich des Urheber- und Patentrechts, sei es in der möglichen Veränderung der Netzneutralität zu priorisierten und benachteiligten Netzen. Alles das hält das System in steter Unruhe und das Einfrieren und wissenschaftliche Fixieren der Bewegung ist schwierig.
Postskriptum
Lehmann befasst sich mit dem Bereich der Neuen Musik. Wenn der Schein nicht trügt, gibt es andere Bereiche, die vehement in andere Richtungen zeigen. Nämlich in Richtung „Institutionalisierung“: Im Jazz und im Popbereich werden seit den letzten 10 bis 30 Jahren viele Anstrengungen unternommen, akademische Institutionen ins Leben zu rufen. Die Zahl der Hochschulen mit Jazzabteilungenn hat eheblich zugenommen, ebenso staatliche Initiativen im Bereich der Popmusikförderung.
Harry Lehmann: Die digitale Revolution der Musik. Eine Musikphilosophie. Mainz, Schott 2012 (Edition Neue Zeitschrift für Musik). ISBN 978-3-7957-0825-2, € 19,95
Zuerst erschienen in: nmz-online, 2.11.2012