Vor über zwölf Jahren haben wir in der nmz die verschiedenen Musiknutzungsanbieter eingehend untersuchen lassen. Damals stellten wir uns die Frage, welchen Vorteil Musikstreaming überhaupt seinem Nutzer bietet. Denn, um in den Genuss der Musik zu kommen, muss er sie sich im Prinzip bei jedem Hören immer wieder neu ausleihen. Der Download hingegen machte die Musik zum nutzbaren Besitz. Da hat sich was geändert: Die Streamingdienste expandieren, die Downloadportale stagnieren oder schrumpfen.
Damals waren die Downloads mit ganz bestimmten Playern verknüpft, so dass man sich an eine bestimmte „Marke“ binden musste, und das CD-Brennen der Stücke war limitiert. Die Archive umfassten gerade mal heute gespenstisch klein wirkende 250.000 bis 500.000 Tracks. Es ging um die Zeiteinheit eines Popstücks, was dann zwischen 79 und 99 Cents kostete. Längere Sachen gab es nur beim Album-Kauf. Aber wenigstens war man im „Besitz“ der Musik.
Der Musik-Stream von heute scheint vielen Nutzern längst bequemer und wirkt wie eine entspannte Flucht in die Flüchtigkeit. Entweder gegen eine Abo-Gebühr oder über Werbung zahlt man für die Nutzung des Dienstes über einen bestimmten Zeitraum. Egal ob Sinfonie oder Popfragment, alles ist drin und alles wird abgerechnet.
Leihgentum
Der zur Verfügung gestellte Musikkatalog ist bei den großen Streaminganbietern auf über 30 Millionen Titel angewachsen. Was nicht heißt, dass es alles gäbe. Vor allem im klassischen Sektor klaffen immense Lücken. Im Popbereich haben einige Künstler, manche wenigstens zeitweise, die Dienste boykottiert. Bekannt ist der Fall von Taylor Swift, die Spotify ihr Repertoire zunächst verweigerte und dies auch dem neuen Dienst von Apple androhte, sofern der Konzern daran festhalten wollte, in der für Nutzer kostenlosen Testphase keine Ausschüttungen an die Künstler, Labels und Urheber vorzunehmen. Apple lenkte ein.
Piraten aus dem Headquarter
Gleichwohl bleiben die Angebote aus Sicht der Künstler und/oder Urheber stets finanziell problematisch. Denn bei ihnen kommt wenig vom Kuchen der Einnahmen an. Es profitieren, das machen „geleakte“ Verträge zum Beispiel zwischen Sony Music und Spotify deutlich, vor allem die großen Labels. Die Musikindustrie zeigt hier ihre Zähne: Denn ohne Repertoire sinkt die Attraktivität der Angebote ins Nichts. Kleinere Labels haben es dabei naturgemäß schwerer. Und der Markt der Streaming-Dienste bereinigt sich zusehends. Kürzlich erst hat Simfy seine Pforten geschlossen und ist in Deezer aufgegangen. Mit Apple Music erscheint ein neuer Big Player am Markt, Google Music will nachziehen. Diese beiden Anbieter wären auf Grund ihrer Finanzmacht in der Lage, den ganzen Markt umzukrempeln. Da kommen die Piraten mal nicht vom Schulhof, sondern aus den obersten Etagen der Headquarter.
Stressthetik
Die Technik verändert aber auch die Art und Weise, wie man Dinge wahrnimmt und sie verarbeitet. Die Möglichkeit, jederzeit auf ein scheinbar unbegrenztes Repertoire aktueller produzierter Musik zugreifen zu können, führt zur Verflüchtigung der Wahrnehmung. Man holt sich ästhetische Striemen beim Hören dauerverfügbarer Informationen. Wenn für die Rundfunk-Macher ihr Angebot als Tagesbegleitmedium bezeichnet wird, so trifft das auf die Streamingdienste noch umfänglicher zu. Man wird als Hörer durchgereicht, aber hat wenigstens scheinbar Einfluss darauf, in welche Richtung.
Durch Algorithmen gewonnene Musikkenntnisse führen zu Empfehlungen, die sicher auch ganz viel, für die Hörer unbekannte Musik hervorholt. Doch bleibt dabei die Beziehung zur Musik, obwohl affektiv besetzt, abstrakt. Anders als beim Radio wird da vorgespult, angespielt, so lange bis man irgendwo hängen bleibt – oder eben nichts mehr hängen bleibt. Je weniger hängen bleibt, desto besser, denn der Streaming-Service lebt vom Konsum, vom Reiz des potentiell Unentdeckten. So komisch es vielleicht klingt, das Geschäftsmodell der Musikstreamingdienste beruht zum wesentlichen Teil darauf, dass man nicht zuhört. Für die Streaming-Dienste ist die Qualität die Empfehlung essentiell. Sie bindet die Nutzer an den Dienst, der dadurch in dessen wirtschaftlichem Netz bleibt. Es ist daher prinzipiell kein altruistisches Verhalten, um die Musik-Kenntnisse seiner Kunden zu erweitern, sondern sich flink an die Gewohnheiten seiner Nutzer anzupassen. Nahe zur Perfektion gebracht bei YouTube. Nur so können neue One-Hit-Wonder wie Gangnam-Style hochpoppen. Die Qualität des Dienstes ist rein quantitativ begründet (bei den vielen Kunden, die bei Spotify das durch Werbung finanzierte Modell wählen, der entscheidende Faktor).
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Das kann übrigens auch miterklären, warum der Bereich der E-Musik beim Streaming fast keine Rolle spielt. Eine „klassisches Werk“ hört man selten über das Smartphone oder den Computer. Die durchschnittliche Länge der Werke, trotz Einübung über die Radio-Kultursender (Stichwort: Verzicht auf ganze Werke), eignet sich nicht für das zufällige Ergänzen durch die Auswahl der Anbieter. Die den Stücken hinterlegten Metadaten sind ungeeignet zur Verwaltung und Suche in den Streamingdiensten. Kurz: die normalerweise nötige Kontemplation beim Hören dieser Musik widerspricht dem Geschäftsmodell. Nach wie vor ist Musikstreaming, vor allem auch in Deutschland, nicht die Norm des Musikhörens. „Während Teenager sowohl die Gratisplattformen als auch die bezahlten Dienste in der Regel exklusiv für den Musikkonsum nutzen, schätzen ältere Nutzergruppen vor allem auch die Möglichkeit des Entdeckens von Musik und kombinieren das Streaming mit dem Kauf von Downloads, CDs oder Vinyl-Schallplatten,“ beschreibt der Bundesverband Musikindustrie (BVMI) die Situation in Deutschland in einer Pressemitteilung vom letzten Jahr. Während nach Erhebungen des BVMI der digitale Anteil am Gesamtumsatz der Musikindustrie 2014 in den USA, Schweden oder Norwegen über 70 Prozent erreicht hat, sind es in Deutschland unter 25 Prozent, in Japan sind die Anteile zurzeit offenbar rückläufig bei 18 Prozent. Musikkultur geht eben nicht in Konsum auf. Es geht um die Hörkultur, die nicht nur in der Vielfalt lebt, sondern in ihrer inhaltlichen Tiefe. Und nun streamen sie mal Tiefe!
- Erschienen in neue musikzeitung 2015/07