Nicht weniger als eine Kunstphilosophie hat Harry Lehmann im Februar-Salon von „nemtsov & nemtsov“ in Berlin vorgestellt und zur Diskussion eingeladen. Er nennt seine Kunstphilosophie im Titel „Gehaltsästhetik“; das entsprechende Buch ist im Januar veröffentlicht worden. Vor etwa 40 Gästen skizzierte er seinen theoretischen Entwurf. Martin Hufner war dabei und berichtet.
Im Grunde ist Lehmann wissenschaftliches Ziel ziemlich einfach zu beschreiben. Lehmann stellt sich die Frage: „Ob und wie eine aktuelle, zeitgenössische Kunst nach dem ,Ende des Materialfortschritts‘ möglich ist“ (Seite 220). Denn dass es auf Seiten des Materials aktuell keinen Fortschritt mehr gibt, ist für ihn unbestreitbar. Dies vorausgesetzt muss es eine andere Lösung geben, um „neue und interessante Werke zur schaffen“ (S. 221). Und die Chance dazu biete die Gehaltsästhetik, so Lehmann.
Aber bis dahin ist es im Buch eine lange Strecke, beim Vortrag ging es wesentlich schneller. Bevor Lehmann zu seiner Gehaltsästhetik gelangt, hat er wirklich umfangreich die Entwicklung der Kunstgeschichte in wenigen griffigen theoretischen Grundzügen kondensiert. So plastisch präzise und doch knapp kann man die Geschichte der Ästhetik, der Kunst und des Schönen selten lesen. Im Vortrag ließ sich derlei kaum noch kürzer fassen, weswegen man auch schnell zum Thema „Gehaltsästhetik“ gelangte.
Dafür führte Lehmann beim Berliner Salon in erster Linie Werke aus der Bildenden Kunst an: Von Damien Hirst über Ai Weiwei bis Daniel Libeskind. Den meisten vorgeführten Werken ist gemeinsam, dass sie ihre Neuheit durch die Überraschung erzeugen, die sich in ihnen, meist über den Titel als integralem Verstehensscharnier, herstellt. Im weiteren Sinn kann man die vorgestellten Beispiele der sogenannten Konzeptkunst zuordnen. Sie sind jeweils singulär und sie bringen alle Informationen zu ihrem Verständnis mit, sei es durch Titelgebung oder Kommentar. Die Werke sind nicht Schulen oder Moden zuzuordnen. Das kann man aus der Sicht der Kunstkritik begrüßen oder auch nicht. Man kann diese Unbezogenheit schätzen oder sie als bloße Pointe abtun. Sie funktioniert jedenfalls anscheinend nur in genau diesem Zusammenhang der beziehungslosen Bezogenheit. Nur durch die Differenz kann diese präzise und bestimmt negieren: Ohne Bezug ist die Unbezogenheit nicht möglich.
Überraschung, Pointe & Witz
Nehmen wir das Beispiel der Architektur beim Anbau des Militärhistorischen Museums von Daniel Libeskind in Dresden. Neben der Bauart und -form beinhaltet sie noch ein Geheimnis, wenn die Keilspitze auf ein historisches Datum „zeigt“, den Ort der Setzung von Zielmarkierungen für den Luftangriff der britischen Bomberverbände. An diesem Beispiel lässt sich demonstrieren, was es mit der Gehaltsästhetik auf sich hat: Die Architektur ist spektakulär und anschlussfrei, sie ist singulär und was den Keil angeht auch konkret auf den Ort bezogen. Sollte sich aus irgendwelchen Gründen tektonisch etwas verschieben, so wird dieses Erklärungsmuster hinfällig, was in diesem Fall die Kunstfertigkeit nicht aufhebt. Andererseits sind diese gehaltsästhetischen Produkte eben doch so singulär, dass sie mit ihrem Gehalt geradezu wie in einer Identität zusammenfallen. Da ist kein Raum für Spekulation, kein Platz für Interpretationen. Werk und Interpretation sind eines. Erst wenn ein Punkt des dargestellten Konzeptes abhandenkommt, ist man wie im spekulativen Bereich. Fehlt der Kommentar, der Titel, oder, ja, das manifeste Werk als materialer Gegenstand selbst, öffnen sich die Tore der Spekulation wieder. Der Witz dabei ist genau der, dass man genau dies nicht machen kann. Denn die Ebenen (Material, Titel, Kommentar) sind nur zusammen zu denken und der Titel ist nicht einfach Akzidenz, also etwas Hinzugefügtes.
Daran anschließend kann man aber durchaus mehrere Fragen stellen. Ist mit dem Begriff der Neuheit hier überhaupt etwas Richtiges getroffen? Denn dazu müssten die Kunstwerke ja auch Altern können. Sie scheinen aber eher entweder zu „funktionieren“ oder nicht zu „funktionieren“ – das heißt in einem Zusammenhang von Erklärbarem stehen. Darüber hinaus mögen sie weitere ästhetische Dimensionen besitzen, die aber am Tropf der Fortschrittsästhetik oder in der Luft hängen. Man kann sich andererseits immer auch nur einmal wirklich überraschen lassen. Und damit alterte das „Kunstwerk“ zum Zeitpunkt seiner Erkennbarkeit.
Trotz Singularität und Verstehenseindeutigkeit sind diese Werke zugleich beliebig. Das heißt man könnte ihre Dimensionen austauschen, die Bedeutungen immer wieder neu codieren. Irgendein ein sozialer oder historischer Zusammenhang wird sich immer finden. Der Museumsanbau in Dresden könnte genauso gut in London stehen und der Keil auf einen anderen historischen Zusammenhang verweisen. Man muss ihn ja nur finden. Die Überraschung lauert an der nächsten Ecke. „Ich bin keine Pfeife …“
Und schließlich kann man sich natürlich der quälenden Frage gegenüberstellen, ob es sich denn überhaupt noch um Werke der Kunst handelt, oder ob diese Kunst nicht in der Gestaltung ihrer Idee auf- und mit ihr untergehen. In einer Welt der Permanenz von Ready-Mades fasst das Superkonzept „Welt“ schließlich alles unter sich. Alles ist Konzept.
Der Diskussion des Vortrags von Harry Lehmann wurde die gleiche Zeit eingeräumt wie dem Vortrag selbst. Ein bisschen selbstgefällig wirkte dabei der eingeladene Diskussionspartner Christian Demand, einem der Herausgeber des „Merkur“. Die Fragen aus dem Publikum wirkten gleich viel stärker und dichter an Vortragsmaterial Harry Lehmanns orientiert. Und später noch wurde in vielen kleineren Kreisen das Thema diskutiert, direkter und auch intimer.
Der Salon hat seine Wirkung entfaltet, die Diskussion ist eingeläutet. Man kann hier auch die größten und schwersten Dinge diskutieren, jenseits der Forschungsbereiche der Universitäten – aber auch die leichtesten. Den Platz dafür öffnen Sarah und Jascha Nemtsov in ihrem wunderbaren zugleich stillen wie helllichten Raum.
In einer der nächsten Ausgaben der nmz wird Dirk Wieschollek Lehmanns „Gehaltsästhetik“ rezensieren.
- Harry Lehmann, Gehaltsästhetik – Eine Kunstphilosophie, 261 S., Paderborn 2016 (Wilhelm Fink).
Zuerst erschienen in: nmz-online, 17.02.2016