Man kann sich der Atmosphäre und Wirkung nicht entziehen, die das Gebäude der Abschlussveranstaltung der Maerzmusik 2016 ausübt. Zum 30-stündigen Programm gehört das stillgelegte und entkernte Kraftwerk in Berlins Mitte. So ist es ein Beispiel für die Architektur aus der Hochbetonik. Darin fühlt sich nicht nur jede Musik wohl, sondern auch das Publikum.
Rezensent war ja nur für vier Stunden Gast der Aufführungen. Dabei hörte er aber die Stille von Cages 4‘33‘‘ ebenso bis sein Nummernstück Fifty-Eight für 58 Bläser. Ebenso mittellange Klavierstücke von Morton Feldman wie die Weltpremiere von Rashad Beckers & Moritz von Oswalds „fathom“ (Live-Elektronik & Klavier), dazu ein bisschen Film, ein bisschen Klanginstallation.
Auf Straßenhöhe sind das Catering und eine Videoinstallation neben der Garderobe und der Kasse platziert. Man hört die leisen Klavierklänge von Morton Feldmans „Triadic Memories“ für Klavier solo. Irgendwo hier in dem Kubus muss ein Klavier stehen. Dieses findet sich nach einem Gang über Betontreppen auf der sogenannten Ebene 8. Aber man hört es nur besser, sieht es immer noch nicht. Dazu muss man sich dann noch weitere gefühlte 80 Meter bewegen, durch eine mit Feldliegen gepflasterte Ebene. Auf den Feldbetten sitzen oder liegen Menschen. Man liest in Büchern, man kommuniziert per Smartphone oder döst vor sich hin. Auf der Plattform auf der der Flügel steht liegen Menschen, teilweise direkt und dem Klangmöbel. Dieses hier so klein wirkende Instrument, von Marino Formenti in den leisen Klängen Feldmans gespielt, füllt den Raum. Ja, die Töne glitzern und tropfen herum. Es ist alles konzentriert und ruhig. Die Menschen sind freundlich. Der Raum eher dunkel, ein paar Strahler beleuchten die Bühne. Von unten dringen die Gerüche des Catering nach oben.
Wähend dessen bauen sich die 58 Bläser von John Cages „Fifty-Eight“ auf. Das heißt sie verteilen sich über die gesamte Ebene. Auch auf anderen Ebenen. Feldman endet, eine Art Zwischenspiel mit elektroakustischer Musik süppelt vor sich hin. Dann, mit einem Schlag beginnt der Klangsturm des Stück von Cage und füllt jetzt den Raum aus. Wie eine menschlich gespielte riesige Raumorgel tönt es über 45 Minuten. Die Bläser spielen jeweils immer einen Ton einer bestimmten Dauer und freiwählbarer Lautstärke. Es resultiert ein Dauerklang, de fortwährend seine harmonische Farbe und seine räumliche Dichte ändert. Von der Piccoloflöte bis zum Kontrafagott, von der Trompete bis zur Baßposaune – man ist im Klang, umhüllt von ihm. Und nach diesen unglaublichen 45 Minuten ist ebenso abrupt Schluss. Der Raum ist akustisch leergefegt, aber nicht still.
Nach einer Pause starten Rashad Beckers & Moritz von Oswalds „fathom“ für Live-Elektronik & Klavier. Jetzt kommen die Lautsprecher zu ihrem Einsatz. Ein sich stetig, eher zurückhaltend entwickelndes Stück – live gemixt. Es läuft ab und vor sich hin, es setzt akustische Punkt, durchlöchert den Raum, es riecht nach musikalischer Trance auch hier. Das ist „The Long Now“ – im Ausschnitt. Eine riesige Klangmixtur, bei der erstaunlicherweise die Klänge eines einfachen Flügels im pianissimo ebenso funktionieren wie das lautstarke Stück von Cage oder die musikalische Vegetation von Becker und Oswald.
https://vimeo.com/159714630
Das Publikum!
Das Publikum ist in einer Art diszipliniert wie man es sich nur wünschen kann. Trotzdem es hier und da auch Unterhaltungen gibt, ist es ruhig, lässt sich einfangen vom Geschehen. Ein Gang durch das chaotische Feldbettenlager ist vollkommen ohne Rempelei, ohne böse Blicke möglich. Man respektiert sich gegenseitig, man gestattet jedem, seine Haltung zur Musik zu finden. Man weiß vorher, worauf man sich einlässt. An dem Platz, der auch für Modeschauen genutzt und zum Präsentierteller für allerlei Eitelkeiten wird, ist seltsam uneitel. Man wird klein vor der Musik und weil sich niemand beengt fühlt, können alle friedlich koexistieren – Kontemplation.
Natürlich ist das ein Event. Natürlich ist das eine Sondersituation. Natürlich ist das Programm auf genau diese Szene des Publikums zugeschnitten. Hierhin verirrt man sich nicht, auch nicht, weil man vielleicht meint, es könnte etwas „hip“pes sein. Oder weil die „Location“ cool ist. Das alles ist es auch. Aber eben nicht im Wesenskern. Man geht ja auch nicht in die Eckkneipe, um eine Teezeremonie zu feiern.
Manche wollen sicher das volle Programm, die extremen 30 Stunden durchmachen. Auch um sehen, was diese Musik mit einem machen wird. Rezensent gehörte nicht dazu. Darüber lässt sich leider nichts sagen.
Man verlässt den Ort und es macht sich eine gewisse Traurigkeit breit. Es ist kalt, es ist dunkel. Die Menschen gehen ihren vielen Zielen nach, aus dem Klangkokon heraus mag man sich plötzlich so nackt und allein fühlen. Ja, ein bisschen ist es wie ein Entzug. Die Welt auf Kunstentzug. Das tut etwas weh.
Zuerst erschienen bei nmz-online, 22.3.2016