Finest String-Concerts since 2006, nicht nur mit diesem Slogan, sondern mit einem Logo, bei dem der Corpus eines Streichinstruments in den Lauf einer Pistole übergeht, wirbt das „Solistenensemble Kaleidoskop“ für sich und seine Arbeit. Heiliger Ernst mit Knalleffekt. Dieses Jahr feiert man das 10-jährige Bestehen.
Seit seiner Gründung besteht das Ensemble aus 15 Streicherinnen und Streichern. Sie decken ein Repertoire vom Frühbarock bis zur Jetztzeit ab. Das schaffen andere auch, das zeichnet das Ensemble nicht vor oder neben anderen aus. Von Beginn an ging es dem Ensemble um die Gestaltung der Konzerte, nicht nur die der Musik. „Das Solistenensemble Kaleidoskop ist ein Kammerorchester, das sich zur Aufgabe gestellt hat, traditionelle Konzertformen zu durchbrechen und verschiedene Künste in inszenierte Konzerte, Musiktheater oder Installationen einzubeziehen.“ Gleichzeitig versucht man so etwas wie die Quadratur der Kammermusik: sich als Ensemble ebenso zu verstehen, wie als Solisten.
Das Jubiläum begeht das Ensemble mit einer vierteiligen Konzertreihe „Unmöglichkeit I bis IV“. An vier unterschiedlichen Orten werden jeweils Programme entwickelt, die sich als „Versuchsanordnungen“ verstehen, „in denen Spielkonventionen und Hörgewohnheiten hinterfragt werden“. Sie wollen die „Hoffnung auf eine neue ‚Hellhörigkeit‘ versprechen.“ Ein Besuch der ersten Versuchsanordnung kann zeigen, wie sehr man seinem Selbstverständnis nahekommt.
Im Berliner Wedding gibt es eine Kunstoase, nahe eines ehemaligen Straßenbahnbetriebshofs. Berlin hat ja immer noch das viertgrößte Straßenbahnnetz der Welt. Die Kunstszene Berlins dürfte insgesamt nur etwas weiter hinten in der Rangfolge stehen. Aber während der Betriebshof stillgelegt ist, spannt sich das Kunstnetz über die Stadt. So ein Netz kann an Knotenpunkten sinnvolle Zusammenhänge produzieren, es kann sich aber auch heillos verwirren. Um den Knoten herum ist meistens viel Luft: Durchlässigkeit, Durchsichtigkeit. Verdichtung und Losigkeit begegnen sich.
Auch im Atelier des Künstlers Dirk Bell fallen Zusammenhang und Entdichtung zusammen. Der Raum ist fast komplett in Weiß gehalten. Dazu im Kontrast an Wänden und Folienprojektionen Liniengeflechte in Schwarz. Hocker, Bänke, die Musikerinnen von der Sohle bis zum Haaransatz weiß, fahle Gesichter (Kostüme: Cristina Nyffeler). Der Raum wird erhellt durch Leuchtstoffröhren, keine versteckten Geheimnisse (Licht/Raum: Dirk Bell), kleine Farbflächen werden von den Besuchern Stück für Stück verdeckt. Es gibt wenig erkennbare Ordnung. Musik wird zum Raum, der Raum wird zur Musik. Die Musik ist das Band, das die Zeit ordnet, der Raum stellt sie still.
Die Zuhörer betreten den von den musikalisch zentralen Klanginstallationen (Ole Brolin, Harpo ‘t Hart, Tilman Kanitz) laut „erleuchteten“ Raum und platzieren sich; sitzend, stehend, gehend. Schon vor der Tür, im kalten Außen, ist sie präsent. Das Publikum tupft den Raum in meist dunkle Farb-Töne. Man trägt gedeckte Farben im kalten Berlin. Drinnen ist es aber warm. Die Klangwolke aus Klangbändern, Clicks und Bleeps wird sich im Laufe der gut anderthalb Stunden, die das Konzert dauert, auflösen und am Ende die „tote“ Musik aus Helmut Lachenmanns „Gran Torso“ freilegen, ehe sie von einer Quartettformation des heute siebenköpfigen Solistenensembles Kaleidoskop „realräumlich“ erklingt. Das ist der grobe Verlauf des Abends.
Nach etwa 20 Minuten betreten die Musiker den Raum, platzieren sich auf Podesten an der Kopfseite des Raumes als Streichtrio und als Quartett/Trio etwas seitlich. Zunächst sind ihre maximal dreiminütigen Einsätze kaum hörbar unterhalb der Klanginstallation. Während sich also das „Gran Torso“ wirklich sehr allmählich aus der Klang-installation ausschleicht, setzen die beiden Ensembles Fragmente aus Musikstücken von Wolfgang Rihm, Guillaume Dufay (kaum wahrnehmbar) und Ludwig van Beethoven, aber auch Helmut Lachenmann hinzu. Selten spielen sie dabei gleichzeitig. Die Fragmente sind ziemlich präzise phrasengerecht auseinandergeschnitten. In der Mitte der Aufführung, wo Dinge sich mehr und mehr vermischen, wird auch der Raum dezent mit Kunstnebel angeflutet: Knotenpunkt und Indifferenz zugleich anzeigend.
Den breitesten Raum nehmen dabei Ausschnitte aus Rihms „Musik für drei Streicher“ ein. Das Stück, selbst ja zerrissen in der Struktur, wirkt wie der kleine Bruder von Lachenmanns Quartett, es ist ein „Petit Torso“ – das selbst in der Faktur auf die musikalische Tradition Bezug nimmt. Alles bindet sich, alles reißt auseinander – einerseits. Andererseits werden die Beethoven-Partien in den Klangverlauf hineingeschoben. Das ist immer solitär: keine Einblendung am Anfang, kein Ausdünnen zum Ende hin.
Die Sache ist ja vom Einlass bis zum Ende hin in vielen Belangen theatralisch durchgestaltet: eine Abstraktion von Prozessen bis in die Kleidung und die Lidschatten der Musikerinnen hinein – Uhren zu den Füßen zeigen die unbarmherzige Unwillkürlichkeit des Ablaufs. Da wirkt das menschelnde Musizieren untereinander, mit Gesten und Blicken fast fremd, weil immer warm. Da mag die Mimik nicht hinter der Musik zurückbleiben, als Restwärme – so wie auch die Farben der Musikinstrumente selbst. Man kann sich fragen, ob die darin enthaltene Spontaneität störend ist oder als Einbruch der klanglichen Konvention zu verstehen ist. Während doch mit Lachenmanns „Gran Torso“ an einen Nullpunkt gelangt, funkeln und schillern die Beet-hoven-Trio-Fragmente wie Perlmuttstückchen. In der Schnittmenge immer
Rihms „Musik für drei Streicher“.
Manchmal ist es vollkommen still, manchmal bahnt sich ein Flugzeug-überflug vom nicht weit entfernten Flughafen Tegel in die Hülle des Ateliers und lässt keinen Zweifel daran, dass die Versuchsanordnung und das musikalische Labor nichts mit kontrolliert klassischem Anbau musikalischer Ideen gemein hat. Schmunzeln! „Neue Hellhörigkeit“. Eine Versuchsanordnung muss keine Antworten liefern, sondern ist die Grundlage einer Probe; eine Versuchsanordnung ist nicht die administrielle Anordnung eines Versuchs! Hier ist sie das Netz, vielleicht auch nur eine Kultur in einer Petrischale; in jedem Fall lässt sie sich nicht abschließen, sondern lässt Raum für Ergebnisse. Im Atelier STUDIOTEN von Dirk Bell war es Versuchsanordnung I: komplex, dicht und strategisch simpel. Das Publikum harrte nach dem letzten Ton von Lachenmanns „Gran Torso“ noch lange in der Stille.
„Hoffnung auf eine absolute Musik“? Unsicher! Unsicherheit? Sicher! Unmöglichkeit? Möglich!
Zurück nach Berlin. Um die Zukunft des Ensembles war es Ende letzten Jahres nicht gut bestellt. Obwohl sich das Ensemble zu 70 Prozent selbst finanziert, konnte man zunächst keine Förderung aus Mitteln des Berliner Kulturhaushalts für die Jahre 2016/17 erreichen. Eines der Probleme war hier das nationale und internationale Renommee des Ensembles, denn, kurz gesagt, man fördert kein Ensemble, das auch außerhalb des Berliner Straßenbahnnetzes ebenso wirkt wie vor Ort. „Auf den letzten Metern“ des letzten Jahres haben sich die Berliner Kulturverwaltung und Kulturstaatssekretär Tim Renner offenbar doch noch umstimmen lassen und Mittel für eine strukturelle Förderung freilegen können. Das Jubiläumsjahr ist sicher: Auch das eine unwahrscheinliche Unmöglichkeit.
Zuerst erschienen in: nmz 4/2016 – 65. Jahrgang