Wir sind in Berlin Mitte, der Abend ist noch nicht angebrochen. In der Spandauer Vorstadt geht man von der Neuen Synagoge kommend an Galerien entlang. Davor Trauben von Menschen, im Gespräch, beim Getränk. Die Sonne bahnt sich einen Weg durch flockigdräuende Wolkengebilde. Dazwischen dann kleine Restaurationen. Tische vor der Tür. Der Puls der Stadt erhöht sich von Moment zu Moment. Es vibriert aber nichts – man existiert, weil man da ist. Schöner Schein. Schöner Sonnenschein.
Eine Ecke weiter biegt man in die Sophienstraße, wo sich die Dinge wieder mehr hinter den Mauern verbergen. Hier ist es schattiger schon. Die Hippness ist ein paar Ecken weiter gezogen, wie es scheint. Man hat die Gegend hochsaniert. Der „Tagesspiegel“ bezeichnete die Straße vor vier Jahren als ein „Ghetto des Wohlstands“. Über eine Milliarde Euro sind von öffentlicher und privater Seite zur Sanierung in die Hand genommen worden.
In Nummer 21 geht man in den zweiten Hinterhof und steht bei Eingang C vor dem Einlass zum dritten Konzert des Solistenensembles Kaleidoskop. Ein altes Fabrikgebäude. Es gibt keinen Andrang, denn Einlass ist für einzelne Personen im Dreiminuten-Takt. Kulturreisegruppen- und Kaffeefahrtenuntauglich. Aber auch am späten Freitagnachmittag wirkt der Zustrom übersichtlich. Man darf ausnahmsweise auch früher hinein.
Durch ein unverputzes Treppenhaus, dazu später ein Wort noch, begibt man sich in die dritte Etage. Es tönt schon. Oben angelangt bekommt mal Filzpuschen, die fortan die Fortbewegung, parkettschonend behindern. Schlurfen statt flanieren. Man befindet sich in der „Sammlung Hoffmann“, eine Privatsammlung von moderner Kunst in einem alten Fabrikgebäude. Das ist überwältigend schön. Die Kunst scheint den Gebäuden wieder eine Seele zurückzugeben, die sie durch die Sanierung verlieren mussten. Und man kann es auch anders sagen: „Der Kunst geht es gut“.
Dramaturgenprosa
Hier also findet die dritte Konzertfolge in zwei Konzerten des Solistenensembles Kaleidoskop mit dem Titel „Unmöglichkeit III – Alice“ statt: 16 bis 22 Uhr!
„In Unmöglichkeit III – Alice begibt sich der Zuhörer in die Wunderwelt der Sammlung Hoffmann. Das Publikum bewegt sich einzeln durch die Ausstellungsräume, in denen sich Abstraktionsformen von Musik und bildender Kunst gegenüberstehen.“ Das tut es leider nicht. Es steht einem dafür ein Bollwerk dramaturgischer Prosa entgegen: „Es entwickeln sich Möglichkeiten der Spiegelung in Abstraktion und die Unmöglichkeit des Austausches darüber. Vermeintlich nicht zusammen gehörende abstrakte Kunstwerke und Klänge können in der Fantasie zu einem ganz persönlichen Ganzen zusammengesetzt werden. Alice beschreibt die Möglichkeiten der Kommunikation mit den Mitteln der Abstraktion, und lässt klingende und stumme Kunstwerke zum Ausdruck der Unmöglichkeit des Austausches über das Unsagbare werden.“
Da mag man seine Tasche fast wieder packen und nach Hause gehen – aber man hat es ja vorher gelesen und gewusst. Man kann es drehen und wenden wie man will: Gelungen ist es, die Künste parallel nebeneinander her laufen zu lassen. Keine Kommunikation! Es gab Architektur, es gab Bildende Kunst, es gab ein Kaminzimmer und eine Bibliothek und es gab Musik. Ja, in all dem Unsagbaren war dann doch einiges Hörbares. Dennoch standen sich die Künste sich eher im Weg als dass sie eine Beziehung, welcher Art auch immer, aufbauten: Die großartige Sammlung Hoffmann mit ihren Kammern und Räumen auf der einen Seite. Mit einem geradezu verschwenderischen Raumangebot, mit größeren und kleineren Werken der zeitgenössischen Kunst, die, da es kein Museum ist, auch ohne Tafeln der Kennung auskommen müssen. Sie sind auf sich gestellt und erzeugen ihre ästhetische Wirkung: sofort, spontan. Da steht einem nichts im Weg – aber es hilft einem auch niemand.
Unterindividuell
Daneben die Musik, die mal hier, mal da, mal lauter, mal leiser, mal mehr, mal weniger zuordbar war. Der Komponist Mark Andre hat wohl seine Musik gehört, er lauschte einem Trio. Die Musiken wurden gespielt von den Musikerinnen in schwarzweißen Kostümen (Christina Nyffeler) oder in rot. Dazu Kunstperücken auf dem Kopf, die die individuell zugeschnittenen Klamotten dann wieder vereinten und auf einen Nenner herunterbrachen. Dann und wann wandeln die Musikerinnen zu ihren Spielorten. Zielorientiertes Wandeln? Freies Schweben? Darf man sie ansprechen oder ist das ebenso verboten wie das Berühren der Kunstwerke. Eine Spielerinnenuhr gibt den Zeitrahmen vor. Die Plätze, wo sie losspielen sind fixiert. Meistens sieht man indes die mit Noten belegte Notenständer ohne Musikerinnen, irgendwo auch einen Plattenspieler, hier und da Mikrofone. Die Dinge werden irgendwo am Eingang aufgenommen und andernorts verarbeitet und über Kontaktlautsprecher im Treppenhaus akustisch wohl ausgedünstet.
Und man selbst bewegt sich nach hier oder nach da, setzt sich auf ein Sofa oder hört stehend zu, in der zweiten Etage der Sammlung gibt es eine Leseecke. Man blättert in Kunstmagazinen oder anderen Zeitschriften wie der „Lettre international“. Da hat man was Handfestes und die Musik wird Stück für Stück zur Nebensache, zur Kunstdiskursbegleitmusik: Postexistentialistische Neo-Muzak. Die Räume und das Licht in den Räumen dagegen bauen ihre eigene Show auf. Die bleibt hängen, wenn sich das Zischeln, Tönen, Huscheln und Rumpeln der Musik längst verabschiedet hat. Die Musik wird hochartifiziell negiert, rauscht ab. Ist an die Wand gedrängt, auch Atmo irgendwie. Extrem gedehnter Bach klingt wie ein Tonpfeil durch die Kammern, aber trifft so wenig jemanden wie die Cheap Imitation von John Cage die man an dieser Stelle erwarten könnte, weil sie Erik Satie ebenso nicht berührt. Alles blicklos. Alles zum entsprechenden Käse analog.
Hochartifiziell negiert
Fotografieren war nicht erwünscht. Die Sammlung Hoffmann untersagt es, der künstlerische Leiter Tilman Kanitz wünscht sich nur Fotos von der Veranstaltung, die einer zu einer „einheitlichen Ästhetik“ passen sollen. Ist schon klar. Das Außenbild des Innen muss passend gemacht werden – und man gibt sich hier auch Mühe, einen Text zu verfassen, der zu dieser Ästhetik passen würde – nicht. Mit diesem Verständnis wird irgendwie auch klar, dass man selbst zum Störer wird und die anderen Zuhörer auch. Dummerweise blendet das totale Performance-Kunstwerk den Besucher nicht aus – oder bindet ihn in seine Rolle ein. Und sei es, dass jeder nicht nur über die obligatorischen Filzschlurf-Überschuhe zur künstlerischen Beute wird, sondern durch einen konfektionierten Überhang. „In dieser Weise bewegt sich das Publikum durch dreizehn Räume und Kammern der Sammlung Hoffmann und kann sich verwirren lassen über das, was nicht zusammenzugehören scheint, aber doch miteinander spricht.“ Kann es das wirklich – siehe oben – wo die Kunstwerke zum „Ausdruck der Unmöglichkeit des Austausches über das Unsagbare werden“. Kann es nicht, wo Misstrauen und Kontrolle geübt werden.
Man kann nicht sagen, dass einen die zwei Stunden aus insgesamt sechs der Aufführung geärgert hätten, nein, man konnte sich eben einfach niederlassen und nur zusehen, dass man dabei einigermaßen ungestört blieb – man musste dann auch nicht fürchten, laufend kontrollierenden Blicken ausgesetzt zu sein. Man war schließlich in der aufregenden Ausstellungsstube der Sammlung Hoffmann.
Es geht nach Hause durch die Bonbon-Szene auf dem Pflaster.
Erschienen auf nmz.de