In England ist sie ein schon fast ein Star, in Deutschland war sie nun zum ersten Mal zu Gast: Die Pianistin AyseDeniz Gokcin. Mit ihrem „Nirvana-Projekt“ gelangte sie sogar unter die UK Top 10 Classical Charts auf iTunes. Man musste fürchten: Die nächste Crossover-Sauce. Aber damit hätte man falsch gelegen.
Im „silent green kulturquartier“ im Wedding, einem relativ jungen Veranstaltungsort, der früher einmal dem nahegelegenen Friedhof als Krematorium diente und dessen achteckiger Kuppelsaal für kammermusikalische Veranstaltungen geradezu ideal erscheint, spielte AyseDeniz Gokcin ein Programm aus Nirvana- und Pink-Floyd-„Transkriptionen“, sowie eigene Stücke und einen Satz aus einer Beethoven-Sonate. Das klingt in der Tat zunächst „interessant“ und zugleich, kennt man doch gewisse musikalische Realisationen, die zwischen Rock/Popmusik und „klassischem Konzert“ anzusiedeln sind, bekommt man Angst vor einer Nivellierung geradezu ikonischer Werke aus beiden Sphären.
Diese ganze Angst war unbegründet, größtenteils. AyseDeniz Gokcin ist eine wunderbare Pianistin, die in Phrasierung, in Druck und Sensibilität beide Sphären beherrscht. Das beginnt bei den Zugaben, einer scharf und lebendig konturierten Bach-Interpretation sowie der Bearbeitung von Michael Jacksons „Billie Jean“, die eben nicht nach Noten gespielt wirkt, sondern die immense Kraft der Bassphrase rhythmisch erfasste und schlichtweg mitreißend war. So kann das gehen.
Beethovens erster Satz aus der Pathetique gelingt ihr dabei ebenso. Die Haltung beim Klavierspiel ist eine andere, die mehr aus dem Inneren des Stücks gewonnen ist und die den Absolutheitsanspruch solcher Musik umsetzt. Ein bisschen mehr Gelassenheit hätte man sich vielleicht gewünscht, ein bisschen mehr der Bewältigung statt des Überwältigtseins. Aber es war doch ein alles Sinne erfassender Tauchgang in eine immer wieder gegenwärtige, und hier: zerrissene, durchfurchte Ausdruckswelt.
Bei den Nirvana-Transkriptionen, teilweise unter Zuhilfenahme von Klängen einer DJ-Zuspielung, die dann Stilmittel der Klavier- und Kompositionstechniken von beispielsweise Prokofiev amalgamiert, wird die Virtuosität leider manchmal zu präsent in den Vordergrund geschoben und die Zuspielung am Ende ist einfach zu plump. Da geraten die Sphären aus Rock-Klang und klassischer Pianotechnik in Konflikt. Nicht jedoch dann, wenn AyseDeniz Gokcin sich auf sich selbst verlässt. Da gibt es flüssige Ostinati ganz subtiler Natur, in die sich dann Nirvanas „Smells Like Teen Spirit“ einschleichen kann.
Ähnlich bei den Pink-Floyd-Umkompositionen, die sie lisztifiziert hat, wie sie es nennt: In ihrer Ankündigung hat AyseDeniz Gokcin die Nähe der Bassphrase von „Another Brick In The Wall“ mit dem „Dies Irae“-cantus firmus betont. Aber immer „Vorsicht!“ – ein Plingplingplang zu viel und die Angelegenheit kippt ins Beliebige
AyseDeniz Gokcin ist hoffentlich noch nicht am Ende ihrer kompositorischen Reise. Ein bisschen fühlt man sich an Friedrich Gulda erinnert, wenn er in den Jazz abgeflogen ist. Aber AyseDeniz Gokcins Auftrag ist ungleich komplexer und schwieriger. Der Start in Deutschland darf als gelungen gelten – und wenn sie den Mut hat, sich mehr auf ihr eigenes Geschick zu verlassen (und das sollte sie unbedingt), statt zu erkennbar an der virtuosen Klaviermusik des 19. Jahrhundert sich zu bedienen, wenn sie stattdessen wie in der herrlichen Gospelpassage innerhalb des Nirvana-Teils die Brücke ins 20. Jahrhundert schlägt und sich dem spezifischen Tonfall statt der Stereotypie der Klaviertechnik zuwendet, wenn mehr sein will als nur der bessere Siegfried Ochs, dann wird sie einen musikalischen Flow entwickeln können, der vergessen macht, wer hier wen amalgamiert. Die musikalischen und technischen Voraussetzungen dazu sind allemal vorhanden.
Erschienen bei nmz.de