Für viele war das Ergebnis der Wahl zum 19. Deutschen Bundestag ein Schock. Der Souverän hat entschieden in recht umfangreichem Maße seine Souveränität abzugeben. Eine Partei, deren „vornehmstes“ Ziel es ist, Angst und Hetze zu produzieren – auch innerhalb der Partei selbst –, ist erstmalig in den Bundestag eingezogen. Dass das nicht weit führt, ist schon am ersten Tag nach der Wahl offensichtlich. Mandatsträger steigen aus, es wird gemobbt, wo es sich einrichten lässt. Zukunftsbewältigung sieht anders aus.
Was hat das alles mit unserem Kulturleben zu tun, speziell dem musikalischen? Kausal gesehen: nichts. Die letzten Jahre sind musikpolitisch alles andere als „als gescheitert“ anzusehen. Die Initiativen, die die integrative und inklusive Kraft von Musik fördern, sind vielfältig wie nie zuvor. Vom Deutschen Musikrat bis hinein in kleinste bürgerschaftliche Aktivitäten war und ist man bemüht, mit Mitteln ästhetischer Bildung, Menschen miteinander in Berührung zu bringen. Das war und ist nicht falsch. Diese Form politischer Musiktherapie ist heilsam und man kann davon ausgehen, dass die Sache der Politik ohne diese Bemühungen viel schlechter aussehen würde. Wen man sonst kaum noch erreicht, den erreicht man unter Umständen auf diese Weise. Allerdings hat dieses Argument einen kleinen Haken. Musik ist ein Mittel ebenso zur Förderung von Zartheit und Ich-Stärke wie zur Einnordung und Gleichschaltung von Menschen. Es ist also unabdingbar, den bisher eingeschlagenen Weg fortzusetzen und ihn sogar noch zu intensivieren, bevor autoritäre Initiativen eine musikalische Umfunktionierung für sich entdecken und praktisch einsetzen.
Positive Entwicklung: Dazu passt es, dass für die kommenden Jahre eine Initiative wie das „netzwerk junge ohren“ aus dem großstädtischen Milieu hineinwirken will in kleinere Städte (siehe auch den Cluster „Gute Nachrichten“, S. 8). Dazu passt es, dass seitens der Kulturstaatsministerin Monika Grütters in der letzten Legislaturperiode zahlreiche Mittel bereitgestellt wurden, um musikalische Initiativen in der Breite zu unterstützen. Da darf man nicht nachlassen. Produktive Kritik daran ist zugleich ebenso nötig wie zwingend und muss aus den eigenen Reihen kommen. Denn der, den andere vor sich hertreiben, verliert das gemeinsame Ziel schnell aus den Augen. Selbstverliebtheit wird eher nicht genügen. Ebensowenig wird es funktionieren, wenn unsere Kulturvermittlerinnen und -vermittler ihre Arbeit in prekären Arbeitsverhältnissen leisten müssen.
Überhaupt gilt es, die Agenda einer offenen, demokratischen und egalitären Gesellschaft aus eigener Kraft auszubauen. Dazu gehört es, bislang leere Begriffshülsen wie den der „Digitalisierung“ endlich zu füllen. Denn es sind nicht die Glasfaserkabel oder andere technische Einrichtungen, die die politische Zukunft handhabbar machen. Ähnliches trifft auf die Bildungspolitik zu, wenn sie sich als Ziel allein um einen guten Platz in nationalen und internationalen Rankings sorgt, statt darum, was die Bildung des Herzens und des Geistes fördert. Das ist nicht das Problem einer Partei, sondern einer verantwortungsvollen Gesamtpolitik.
Und last, but not least: die Förderung der Gleichstellung von Frauen in der Gesellschaft (siehe dazu auch das Editorial von Barbara Haack auf dieser Seite). Es ist eine traurige Erkenntnis aus der Wahl, dass vor allem männliche Wähler anfällig sind für autoritäre Strukturen – sie sind es leider ja auch, die sie prägen. Eine gesellschaftliche Stärkung von Frauen in allen Organisationen des Kultur- und Musiklebens wird zwangsläufig unser Leben lebens- und liebenswerter machen.
Das alles ist aus eigener Kraft zu schaffen, das alles muss sich – beweglichbleibend – festigen. Es ist unsere Welt, in der Höflichkeit, Freundlichkeit, Respekt als Bastion der Menschlichkeit gebaut werden. Die selbstzerstörerischen und chauvinistischen Kräfte kann man gerne den Verbockten überlassen. Werfen wir ihnen ihre Stöckchen zurück, über die sie dann selbst stolpern dürfen. Ganz sicher wird das nicht allein Aufgabe einer überparteilichen Kulturpolitik sein. In den anderen Politikfeldern ist die Vernunft des Parlaments gefragt, damit eine freiheitlich-fröhliche Kultur sich ihr Volk auch nachhaltig zurückholen kann. Es wäre ein Geschenk an uns selbst, wie Adorno einmal bemerkte: „Alle nicht entstellte Beziehung, ja vielleicht das Versöhnende am organischen Leben selber, ist ein Schenken. Wer dazu durch die Logik der Konsequenz unfähig wird, macht sich zum Ding und erfriert.“
Es gibt also viel zu tun – und es bleibt vieles zu tun. Ob im engeren Kreis, in dem wir leben und von dem ich weiß, wie viel gute Arbeit da geleistet wird, oder im weiteren der politischen Gestaltung unseres Gemeinwesens. Das einzufordern – unabhängig von parteipolitischer Färbung – bleibt eine Daueraufgabe. Sie wird jetzt einfach nur nötiger denn je. Wer das will, wird seinen Platz finden, in der politischen Selbstverwaltung oder außerhalb, was ebenso wichtig ist. Nur Demokratie dafür aufzugeben, um sie zu erhalten, wird und darf niemals verfangen. Darum muss man die Frage vom Anfang – „Was hat das alles mit unserem Kulturleben zu tun, speziell dem musikalischen?“ – dialektisch auch mit einem „Alles“ beantworten.
Zuerst erschienen in: nmz Ausgabe: 10/2017 – 66. Jahrgang