Zwischen „Auftrag und unbändiger Lust“ beschreibt Charlotte Seither ihr Movens zum Komponieren. Neben der Arbeit an tönenden Gebilden ist sie in zahlreichen Gremien aktiv, unter anderem als Aufsichtsratsmitglied der GEMA. Martin Hufner traf Seither zum Gespräch über Neue Musik, Engagement und falsch verstandene Sozialromantik.
neue musikzeitung: Wir sind hier ganz in der Nähe einer ehemaligen Wohnung des Komponisten Hanns Eisler, der in der Berliner Grolmann-Straße eine Zeit lang gelebt hat. Eisler suchte auch als Komponist Beziehungen zwischen Politik und Musik. Gibt es bei Ihnen auch solch einen Zusammenhang? Würden Sie sich als politischen Menschen oder politische Komponistin begreifen?
Charlotte Seither: Wenn ich nicht aktiv partizipiere und eingreife in die Prozesse der Gesellschaft, dann lasse ich ja zu, dass andere darüber entscheiden, wie ich zu leben habe. Als Mensch engagiere ich mich also ganz bewusst in Gremien und kulturpolitischen Initiativen, in denen es darum geht, dass Kultur in ihrer Qualität und Vielfalt gefördert wird. Kultur braucht ja immer einen Freiraum, in dem sie existieren kann – und dies ohne Verengung auf vordergründig wirtschaftliche Interessen. Ein Stück zu schreiben über die Arbeitsbedingungen von Komponisten oder über Gendergerechtigkeit, das würde mich niemals interessieren. Solche Themen gehe ich lieber konkret an: in Gremien und kulturpolitischen Initiativen. Es hat mich bislang noch selten überzeugt, wenn ein politisches Statement in den Mittelpunkt eines Werkes gestellt worden ist, ich bin da wohl eher misstrauisch.
Mein eigenes Anliegen in der Kunst ist also ein anderes: Ich möchte nicht zeigen, wie die Welt ist. Ich möchte, dass wir einen neuen Blick auf die Welt gewinnen, so wie sie ist – das sind zwei sehr verschiedene Dinge. Beim ersten bilde ich ab, eins zu eins. Das muss nicht zwingend auch zu guter Kunst führen. Beim zweiten überlasse ich dem Hörer die Freiheit, selbst zu entscheiden, was er wie hören und wie er die Welt wahrnehmen will. Hören macht stark. Wenn es aber um wirklich politische Fragen in unserer Gesellschaft geht, dann genügt das Hören nicht, dann muss man auch und zuallererst handeln. Hier also bin ich gerne wieder bei Hanns Eisler. Für mich selbst habe ich die Dinge also klar getrennt: In der Kunst, da mache ich Kunst, im Leben, da mache ich handfeste kulturpolitische Arbeit, deren Früchte dann auch zu konkreten Veränderungen führen.
Musik & Gesellschaft
nmz: Gleichzeitig müssen Sie darauf rekurrieren, dass es ein Subsystem gibt, in dem Sie existieren können. Ist die Welt so gestaltet, dass Ihre Musik und Ihre Vorstellungen sich realisieren?
Seither: Man muss sich ein solches Umfeld aktiv schaffen. Auch dies gehört zu den Aufgaben, vor die man als Komponist ja immer wieder neu gestellt ist. Ich glaube, dass gute Kunst immer nur deshalb entstanden ist, weil Menschen das dringende Verlangen hatten, sie zu machen. Dann haben sie auch nach Mitteln und Wegen gesucht. Wir wissen aber auch, dass dies nur möglich ist, wenn man nicht gerade an Pest oder Cholera stirbt oder mit der Harke in einem Bauernkrieg steht. Es bleibt bis heute viel künstlerisches Potential auf der Strecke im grausamen Schlund der Geschichte, nicht zuletzt auch von Frauen. Die Arbeitsbedingungen für Künstler immer wieder neu zu reflektieren, das ist und bleibt eine Aufgabe. Man kann und muss aber auch selbst viel Initiative aufbringen, um das, was man tut, in die Gesellschaft hinein zu tragen.
nmz: Es klingt fast so, als würden Sie nie im Auftrag beziehungsweise immer nur im eigenen Auftrag arbeiten.
Seither: Ich arbeite überwiegend im Auftrag. Dazwischen entstehen aber immer auch Werke, die ich mir selbst erlaube, weil ich eine unbändige Lust verspüre, etwas Bestimmtes auszuprobieren. Natürlich ist es in der Enge der Zeit nicht immer möglich, diese „free works“ dann auch zu Ende zu führen. Der Auftragsalltag – mein Broterwerb – geht vor.
nmz: Wie kann man das denn verknüpfen? Es gibt die Wünsche des Auftraggebers, es gibt die Wünsche, die Sie eben angesprochen haben, mit Kompositionen Dinge zu verändern?
Seither: Ich sehe das in keiner Form als Widerspruch. Mit den Aufträgen ergibt sich ja meist auch eine inhaltliche Fragestellung, die Eröffnung des Heinrich-Kleist-Jahres zum Beispiel. Wenn es einen Bezug gibt zu Kleist, der für mich so stark ist, dass er mich auch persönlich weiterbringt, dann sage ich gerne zu. Ich kann sagen, dass ich alle Aufträge, die ich angenommen habe, auch sehr gerne realisiert habe. Manchmal gibt es handwerkliche Ausgangspunkte, eine bestimmte Besetzung zum Beispiel, manchmal sind es inhaltliche Aspekte.
Engagement
nmz: Sie sind in zahlreichen Institutionen des musikalischen Lebens engagiert, vom Deutschen Musikrat über die GEMA bis zum Arbeitskreis „Gendergerechtigkeit“ des Deutschen Kulturrates. Kennen Sie eigentlich alle Ihre Engagements? Wieviel Lebenszeit kostet Sie das?
Seither (lacht): Es kostet in der Tat viel Kraft und Zeit, sich in solchen Gremien zu engagieren. Es bereichert auf einer anderen Seite aber auch enorm. Ich erlebe dadurch eine größere Polarität zwischen dem Innen – alleine am Schreibtisch zu sitzen – und dem Außen – aktiv einzugreifen in die Bedingungen des Kulturbetriebs. Als junger Komponist vermisst man diese Doppelseite vielleicht weniger, da berauscht man sich noch daran, sich ganz mit sich alleine zu beschäftigen. Mit zunehmender Erfahrung genügt dies aber nicht mehr. Glück braucht das gestaltete Miteinander. Ich engagiere mich deshalb gerne für Inhalte, die ich auf meine persönliche Agenda geschrieben habe: kulturelle Bildung, die Rolle der Kultur in der Zivilgesellschaft wie auch die Arbeitsbedingungen von Kreativen bis hin zur Alterssicherung. Gerade auch im Zeitalter der Digitalisierung müssen wir die Bedeutung von Kultur in unserer Gesellschaft noch einmal ganz neu ausrichten.
nmz: Wo sind aktuell in Ihrer Arbeit die größten Baustellen?
Seither: Ich halte nach wie vor die kulturelle Bildung in Vielfalt für das zentrale Anliegen der Musikpolitik. Wir müssen den Kulturauftrag, den unsere Rundfunkanstalten, Staatstheater und Bildungseinrichtungen haben, immer wieder einfordern, damit wir auch weiterhin in einer offenen, aufklärungsfreundlichen Gesellschaft leben können. Ganz persönlich ist mir daneben auch die Geschlechtergerechtigkeit ein wichtiges Anliegen. Monika Grütters ist hier die Erste, die es nicht nur bei schönen Worten belässt. Deutschland steht in puncto Geschlechtergerechtigkeit auf Platz 26 von 28 EU-Ländern. Wir haben also noch erheblichen Nachholbedarf.
nmz: Mit Karl Marx würde man jetzt vielleicht einwenden können, das sind Korrekturen im „Überbau“, also im Bewusstsein der Menschen, ohne dass man die Substanz, die soziale Lage direkt verändert?
Seither: Das verknüpft sich ja aufs Engste. Die GEMA etwa ist zum einen ein wichtiger Partner, der Komponisten und Textdichtern ein wirtschaftliches Auskommen aus der künstlerischen Arbeit ermöglicht. Sie hat aber noch ein ganz anderes Potential: In der GEMA kommen 70.000 Kunstschaffende zusammen. Sie ist die größte Vereinigung Kreativer überhaupt in Deutschland. Wenn man überlegt, was für eine unglaubliche man- (und woman-)power und künstlerische Ausstrahlungskraft da in der Mitgliederschaft zusammenkommt, dann könnte diese Vereinigung auch inhaltlich zu einem gewichtigen Sprachrohr für die Kultur in unserer Gesellschaft werden. Wirtschaftliche Macht braucht immer auch ein Gegengewicht in der kulturellen Verantwortung. Umgekehrt müssen wir aber auch die Bedingungen schaffen dafür, dass diese Verantwortung auch von jedem Einzelnen übernommen werden kann.
nmz: Man könnte manchmal den Eindruck bekommen, dass die „Truppe der Kunstsoldaten“ häufig für ein Publikum spielt, das sich bereits in diesen ästhetischen Gefilden befindet. Dem gegenüber stehen Initiativen, die in Richtung Crossover und Yellow-Lounge und wie das heißt gehen wollen. Wie ist diese Brücke zu bauen, zwischen der Welt der Ästhetik und der ästhetischen Produkte und der Lebenswelt des größten Teils der Bevölkerung?
Nischen
Seither: Das ist eine Frage, mit der ich als Komponistin ständig konfrontiert bin. Wir erreichen mit der Neuen Musik bekanntlich ja nur einen kleinen Ausschnitt der Gesellschaft. Niemand will das schönreden. Genau hier aber frage ich zurück: Es darf doch so sein!? Es darf doch sein, dass Nischen existieren!?! Stellen Sie sich vor, wir alle dürften uns nur noch von Currywurst mit Pommes ernähren, aus dem einfachen Grund, weil Currywurst das beliebteste Essen der Deutschen ist. Das wäre doch absurd. Wir brauchen die Gleichzeitigkeit von vielen verschiedenen Dingen in der Kultur. Dass Neue Musik im Rundfunk unterirdische Quoten erzielt – das darf so sein. Wir müssen uns nicht immer und in allem von Zahlen und Evaluationsergebnissen dominieren lassen. Alle Dinge, die wichtig sind im Leben, lassen sich übrigens zahlenmäßig gar nicht vermessen. Gleichwohl müssen wir uns dafür einsetzen, dass Neue Musik auch weiterhin vermittelnd in die Gesellschaft hineingetragen wird. Jeder muss das Recht haben, als Hörer dort partizipieren zu können, wo er will. Er muss aber auch wissen, welche Musik es gibt, um sich für oder gegen sie entscheiden zu können.
nmz: Nehmen wir einmal den Bereich der Geschlechtergerechtigkeit, da greift man unter Umständen ja schon ein in das, was ist, um einen anderen Zustand herzustellen. In den GEMA-Informationen kann man lesen, dass 87 Prozent der Mitglieder der GEMA Männer sind. Kann man das verändern? Soll man das verändern?
Seither: Wir müssen es verändern und ich begrüße sehr, dass sich das Bewusstsein für die Gerechtigkeit der Geschlechter aktuell auch in der GEMA positiv entwickelt. Bei den diesjährigen Wahlen sind gleich mehrere Frauen neu in die Ausschüsse hinzugetreten – das war so einfach, dass man sich gefragt hat, warum es nicht schon viel früher dazu gekommen ist. Ich glaube, dass wir im Kulturbetrieb generell noch viel mehr und weitaus stärkere Hebel einsetzen müssen, um Frauen adäquat sichtbar zu machen. Das Ziel ist ja, dass wir all die Maßnahmen wie die Quote oder spezielle Mentorprogramme irgendwann nicht mehr brauchen, weil sich die Gesellschaft verändert hat. Eines muss dabei klar konstatiert werden: Die Selbstverpflichtungen, die uns seit 20 Jahren versprochen worden sind, die sind gescheitert. Andere Länder, wie etwa Schweden oder Großbritannien, sind hier schon längst weiter: Führungspositionen, Status, Gestaltungsmöglichkeiten und nicht zuletzt auch Einkommen sind dort also erheblich paritätischer verteilt als bei uns. Das muss sich auch bei uns nachdrücklich ändern.
nmz: Sie sind in vielen Gremien tätig, gleichzeitig in den sozialen Netzwerken gar nicht. Handelt es sich dabei um eine grundsätzliche Ablehnung oder Abneigung? Igor Levit, den wir in einer der letzten Ausgaben interviewt haben, nutzt Twitter ja extrem für sich. Warum machen Sie das nicht?
Seither: Es ist mir einfach zu anstrengend … Ich brauche einfach auch einen geschützten Innenraum und klare Rückzugsmöglichkeiten. Ich bin ja auch kein Handy-User und schätze die Autonomie, nur dann persönlich erreichbar zu sein, wenn ich das auch will. Anrufbeantworter und E-Mail-Account genügen mir vollkommen in Sachen Erreichbarkeit.
Bedingungsloses Grundeinkommen?
nmz: Sie sind Komponistin. Würden Sie sagen, das ist ein empfehlenswerter Beruf?
Seither: Ich selbst mag meinen Beruf sehr. Es kommt aber immer auf den Einzelnen an: Ich rate zu, wenn ich spüre, dass jemand wirklich etwas will und ihm auch zutraue, seinen Weg zu gehen. Es ist und bleibt aber natürlich stets (auch) die Aufgabe unserer kulturellen Systeme, die Bedingungen dafür zu schaffen, dass dieser Weg auch gangbar ist. Es ist und bleibt letztlich also immer eine Einzelfallentscheidung.
nmz: Wäre so etwas wie ein bedingungsloses Grundeinkommen eine Perspektive, um eine gewisse solide Basis zu legen, damit eine Entscheidung in diese Richtung beispielsweise leichter fiele?
Seither: Unter Künstlern wird dies oft diskutiert. Ich persönlich halte nicht nur die Arbeit an sich, sondern auch den Arbeitsprozess mit all seinen Implikationen für enorm fruchtbar. Ein Arbeitsprozess sensibilisiert ja für den Umgang mit Ressourcen wie Zeit oder Kraft, er trainiert die Fähigkeit, sich auch in Konflikten mit anderen auseinander zu setzen, schafft ein soziales Umfeld und gibt ein Feedback. Der Arbeitsprozess ist meines Erachtens also bereits in sich kostbar – und dies unabhängig vom eigentlichen Produkt oder wirtschaftlichen Gewinn. Dies kann aber eben nur gelingen, wenn Arbeit auch eine Würde besitzt und damit auch als bereichernd erlebt werden kann. Wir alle wissen, dass es grauenhafte Jobs gibt, in denen die pure Ausbeutung jegliche Würde untergräbt. Wenn die Entfremdung zwischen „eigentlicher“ (künstlerischer) und „uneigentlicher“ Arbeit (Brotjob) also zu groß ist, dann würde ich gerne für ein bedingungsloses Grundeinkommen votieren. Geld alleine kann niemals Würde erschaffen. Es gehört aber auch zur Würde einer jeden guten Arbeit, dass der, der sie macht, auch davon leben kann. Dass Kunst die „Armut“ braucht, um zu gedeihen, das halte ich für eine fatale Form von Sozialromantik. Deshalb muss man ja auch handeln. Nicht (nur) im Werk, sondern auch ganz konkret: da wo’ s in unserer Kulturgesellschaft auch gebraucht wird.