Schleichende Veränderungen sind im kulturellen und gesellschaftlichen Bereich nie ganz ohne Gefahr. So können Grundlagen gesellschaftlichen Lebens mit der Zeit dadurch entwertet werden, dass man sie als selbstverständlich und unverbrüchlich ansieht. So wie das Grundgesetz Deutschlands, das gerade 70 Jahre alt geworden ist. Wenn man aber nicht aufpasst, verschwinden solche Gewissheiten. Die Gefahren drohen von innen wie von außen.
So ist es auch um die Freiheit der Kunst bestellt, die Artikel 5 des Grundgesetzes ganz prominent vertritt. „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei“, heißt es dort in wirklich einfachen und unmissverständlichen Worten. Diese Selbstverständlichkeit wird allerdings längst nicht mehr von allen geteilt. Gerade von Seiten rechtspopulistischer Parteien versucht man, Kunst zu gängeln, indem man zum Beispiel behauptet, politisch wirkende Kunst habe diese Freiheitsgarantie verwirkt. Das lässt sich aus dem Grundgesetz allerdings überhaupt nicht ableiten.
Dennoch hat man leider damit fallweise Erfolg – nicht über das Mittel einer rechtlichen Auseinandersetzung, sondern durch Hineinwirken in die politische Selbstorganisation der Kunsträume: Das war letztes Jahr der Fall, als der Auftritt der Band „Feine Sahne Fischfilet“ am und im Bauhaus Dessau seitens der Hausherren (und -damen) abgelehnt wurde, weil man Krawalle befürchtete, die von der rechtsnationalen Szene hätten angezettelt werden können. Aber auch 2015 empfahl beispielsweise ein CDU-Ratsmitglied der Stadt Hannover anlässlich einer „Freischütz“-Produktion der Oper Hannover seinem Kulturdezernenten, „in seiner Funktion als Aufsichtsratsmitglied der Oper dringend, in diesem Sinne dort durchzugreifen und bei aller Freiheit für die Kunst dafür Sorge zu tragen, dass die Schätze, die uns Dichter und Komponisten hinterlassen haben, lebendig bleiben und nicht ins Niveaulose und Beliebige gezogen werden“. Am deutlichsten positioniert sich in dieser Hinsicht die AfD, deren Programm ihr kulturpolitischer Sprecher Marc Jongen schon sehr früh nach seiner Wahl in den Bundestag als „Entsiffen“ des Kulturbetriebs beschrieb. In Ländern und Kommunen zeigt sich das in einer Flut von Anfragen und Anträgen gegen kulturelle Institutionen und Medien. Dadurch wird ein andauernder Druck auf Kunst und Kultur ausgeübt.
In anderen Ländern der europäischen Union ist man da schon weiter: Ungarn, Polen, Italien arbeiten verstärkt auf eine Art Gleichschaltung von Kunst, Kultur, Wissenschaft und Presse hin. Es werden Studiengänge abgeschafft, öffentliche Medien neu ausgerichtet, die Rechtssysteme durch Personalwechsel umgepolt, Kulturinstitutionen neu besetzt. So weit ist es hier (noch) nicht. Hier gibt es bislang „nur“ vorauseilendes Einknicken auf der Ebene kommunaler Entscheidungen.
Neben diesen offensichtlichen Veränderungen droht aber auch Gefahr für die Kunstfreiheit aus dem Inneren der Gesellschaft heraus. Das zeigte sich anlässlich eines parlamentarischen Kulturabends von Bündnis 90/Die Grünen, der unter dem Motto „Kunst + Freiheit – under pressure“ stand. Kunstfreiheit werde gerne als Deckmantel benutzt, um in ihrem Namen dann die Freiheit anderer zu gefährden, erklärte Katrin Göring-Eckardt. Dementsprechend war es ihr wichtig zu sagen, dass die Freiheit „Grenzen“ kenne, worüber man eben streiten müsse, auch wenn dies schwerfalle. Diese „Grenze der Freiheit“ finde Kunst in den Rechten von Minderheiten. Die Sache ist nur: Eine Minderheit, die sich von Kunst bedroht fühlen kann, lässt sich immer beliebig konstruieren – von links, von rechts, von unten oder oben, oder auch aus der Mitte heraus.
Die Worte des Grundgesetzes sollte man jedoch nicht nur als „Schutzgarantie“ der Kunst verstehen, sondern auch als Aufforderung. Denn bei genauer Beobachtung wird man immer wieder feststellen, dass die Kunst, die den Rechten so vorschwebt, keine „freie Kunst“ ist, sondern eine bestimmte, angeführte, ja verführende und zu autoritären politischen Zwecken missbrauchte. Das trifft natürlich auf sexistisch oder rassistisch motivierte Kunst gleichermaßen zu. Solche Kunst, die sich auf die Kunstfreiheit berufen mag, ist im Kern eine unfreie Kunst. Sobald die Einordnung in die Sphäre des Rechts und der Realpolitik gerät, droht freier Kunst das Verhängnis der Unterdrückung, der Rechtfertigung und damit der schleichenden Vor- und Selbstzensur.
Die Ergebnisse der aktuellen Wahl zum Europaparlament zeigen leider ein Erstarken derjenigen Kräfte, für die Kunst am besten nur in der Form gesellschaftlicher Fassadenmalerei bestünde. Theodor W. Adorno hat diese Problematik übrigens schon 1948 mit Blick auf gesteuerte Kunstproduktionen im Ostblock als gegängelte Kunst gebrandmarkt: „Kunst darf nicht frei sein, weil sie als freie ausspräche, daß die Menschen es nicht sind …“ Ist dieser Weg aber erst einmal eingeschlagen, sei es durch Rechtpopulistinnen oder durch gesellschaftliches Selbstzerfressen, werden Kunst und Kultur gelähmt.
Eine gegängelte Kunst wäre ein Verlust für unseren aufgeklärten Kulturbegriff, in dem freie Entfaltung der Person garantiert und die Würde des Menschen unantastbar ist. Kunst, die als freie ja immer eine politische ist, droht zum Spielball herrschender Politik und damit ihres Wesens als streitbarer Sinnlichkeit beraubt zu werden. Ihr Gegenstand ist nicht die Betonung von Differenzen zwischen den Menschen, sondern die Entfaltung ihrer Differenziertheit, nicht die Neutralisierung von Haltungen, sondern die Darstellung bunter Vielfalt, die nicht jeder oder jedem passen muss und kann. Nur von einer solchen freien und streitbaren Kunst kann Gesellschaft profitieren und umgekehrt.
Zuerst erschienen in: nmz 6/2019 – 68. Jahrgang