22. November 2024 Guten Tag, everybody

Verachtet mir das Publikum nicht

Bisher, vielleicht naiv, dachte ich: Kunst ist Kunst, wenn man ein Kunstwerk herstellt. Die ist eben dann einfach da. Wer sie haben will, nimmt sie sich, kauft sie, leiht sie aus. Kunstwerke stehen einfach für sich, sie brauchen niemanden außer sich selbst. Jetzt in den Corona-Zeiten, unter den Bedingungen der Absonderung von Kunstwerken und Menschen, sind Zweifel angebracht, ob diese Wertung in dieser Form tatsächlich stimmt.

Kunstwerke ohne Publikum scheitern. Ohne Publikum ist alle Kunst verloren. Das lässt sich in der aktuellen Extrem­situation beobachten, wo dem Publikum der Zugang zu Konzerten, Theatern, Museen, Opernhäusern oder Clubs untersagt ist. Man bemerkt es bei Satiresendungen im Fernsehen, die ohne Livepublikum plötzlich gar nicht mehr so witzig wirken. Das machen schlagartig und eklatant die so genannten Geisterkonzerte deutlich, bei denen die musikalischen Akteure so tun, als spielten sie einen ganz normalen Auftritt – nur eben ohne nennenswertes Publikum. Das Konzert von James Blunt in der (bis auf die anwesenden Musikerinnen und Musiker) leeren Elbphilharmonie strahlte eine geradezu aseptische und zugleich bedrückende Glätte aus, bei der die von Computertechnik gesteuerten Lichtanlagen einer Musik ihre ganze seelenlose Maschinenwirklichkeit entgegenstellte. So absurd wie aus einem Zukunftsroman wirkte es, gerade so, als spielten hier menschliche Klangsklaven zur Ergötzung von Robotern.

Das Publikum ist offensichtlich eben nicht nur da, um für den Kunstgenuss zu bezahlen und die Akustik von Räumen zu verbessern, das Publikum ist ein nötiger Resonanzraum und eine olfaktorische Dunstglocke, wobei selbst Hustende und Türknallende durchaus nicht nur stören. Im engen Club müffelt das Vergnügungsvolk tratschend, im Kammermusiksaal raschelt es zum Grundrauschen bei 4711, Tosca und Eternity.

Es handelt sich dabei um ein Phänomen, das offenbar aber auch mit dem Sehen, dem optischen Element und vor allem der Live-Situation von Musik zu tun hat, denn beim Radio- oder CD-Hören tritt dieses Phänomen nicht in Erscheinung, genausowenig wie bei komplex produzierten Videoclips und Studioaufnahmen.

In einer Zeit wie der jetzigen fällt dieser Umstand besonders auf, weil Konzerte im herkömmlichen Sinne nicht mehr stattfinden können. Das Konzert in den digitalen Raum zu verlegen, mit einzelnen Menschen vor Bildschirmen, macht wenig Freude, es verkleinert sich zu einer Geste, die gewiss nicht ohne Charme sein muss, denkt man an die musikalischen Wohnzimmergrüße prominenter Musikerinnen und Musiker. Gleichwohl, der Eindruck, es handle sich musikalisch wie ästhetisch irgendwie „nur“ um eine Probensituation, ist nicht von der Hand zu weisen. Die Art und Weise, wie die Musizierenden vor den Kameras „Aufregung“ empfinden, ist wohl eine jeweils sehr andere. Denkbar wäre es, dass sich das auf die Dauer ändert und man auch eine Art neue Aufregung lernen muss. Ob sich das aber lohnt oder durchsetzt?

Denkt man dieses oben beschriebene Phänomen weiter, könnte man ganz neue Konsequenzen für das Nachdenken über die Gestaltung von Konzerten ziehen. Denn die „Gestaltung von Konzerten“ ist gar nicht so entscheidend im Vergleich zur Tatsache, dass sie schlechterdings einfach vor Publikum stattfinden. Das Publikum macht die Musik! Es schadet natürlich nicht, wenn man neue Wege, Konzertsituationen zu gestalten sucht, aber für eine angemessene Rezeption von Musik ist das überhaupt nicht so hoch zu bewerten, wie es einigen dünkt. Derlei Maßnahmen dürften vor allem dabei helfen, das Publikum „in Form“ zu bringen, es reaktiver und empfänglicher zu machen, damit es gut resonieren kann. Aber mit „Augen-Zu und im Konzertsitz versinken“ ist man nicht unbedingt weiter von der Musik entfernt als mit Tamtam und Brimborium. Es muss einfach nur passen.


Zuerst erschienen in nmz Ausgabe: 4/2020 – 69. Jahrgang