Die Folgen der Coronapandemie betreffen viele Bereiche des Musiklebens – auch der Musikjournalismus gehört dazu. Ich habe Hartmut Welscher, den Chefredakteur und Herausgeber des VAN-Magazins befragt, wie man dort die aktuellen Entwicklungen beurteilt, welche konkreten Probleme momentan auftreten und wie man die Zukunft der Zunft und der Musikkultur einschätzt.
Martin Hufner: Herr Welscher, welche Auswirkungen haben die Folgen der Corona-Pandemie für Ihr Online-Magazin „Van“ gehabt (Kurzarbeit, Entlassungen, Umsatzeinbruch, Anzeigenverluste)?
Hartmut Welscher: In finanzieller Hinsicht trifft uns Corona vor allem durch Anzeigenstornos. Viele unserer Anzeigenkunden wie Konzert- und Opernhäuser, Festivals, Orchester oder Ensembles wollten in VAN Veranstaltungen bewerben, die nun ausfallen. Unsere zweite Umsatzsäule, die Aboverkäufe, ist stabil bzw. wächst tatsächlich gerade schneller als vor der Krise, wie im übrigen auch die Zahl unserer Leser:innen. Wir bekommen viele Rückmeldungen von Leser:innen, die uns gerade jetzt mit einem Abo unterstützen wollen. Dafür sind wir natürlich total dankbar, weil das unsere Arbeit überhaupt erst möglich macht, auch wenn es die Verluste aus dem Anzeigengeschäft nicht ganz auffängt.
Wie reagieren Sie darauf?
Wir versuchen bis jetzt, dieselben Honorare und Gehälter zu zahlen wie vor der Krise. Wir arbeiten ja gerade auch nicht weniger als vorher. Für viele unserer Autor:innen, die sonst zum Beispiel noch Programmhefte schreiben oder Konzerteinführungen machen, sind wir gerade die einzige Einnahmequelle und eine Konstante in der allgemeinen Unsicherheit. Wie lange wir das durchhalten können, hängt natürlich davon ab, wie sich die Rezession auf Marketingbudgets und Abozahlen auswirken wird. Jedes Abo und jede Weiterempfehlung sind deshalb gerade wichtig für uns.
Sie betreiben eigentlich ein kostenpflichtiges Online-Angebot im Klassik-Sektor. Seit Beginn der Corona-Krise haben Sie den Zugang gelockert. Die Paywall ist weg. Warum eigentlich und wie lange soll dies so bleiben?
Die Entscheidung entstand eher aus einem Bauchgefühl heraus, als Zeichen der Solidarität und um allen den Lockdown etwas erträglicher zu machen. Wir haben in VAN auch viel informiert über Hilfsmaßnahmen, die Situation freier Künstler:innen, Streaming-Angebote, das wollten wir allen zugänglich machen. Gleichzeitig waren wir immer ziemlich zwiegespalten, weil wir davon überzeugt sind, dass guter, unabhängiger Journalismus, der nicht über Gebühren finanziert ist und nicht nach Algorithmen funktioniert, einen Wert hat und Geld kosten muss. Vor zwei Wochen haben wir deshalb wieder unser Abomodell eingeführt. Unser Jahresabo kostet auf den Monat gerechnet übrigens 3,30 Euro, soviel wie ein günstiges Eis mit drei Kugeln.
Vor Jahr und Tag (eher vor 8 Jahren) erschien die Streitschrift „Der Kulturinfarkt“, der viel Widerstand ausgelöst im Kulturbereich ausgelöst hat. Im Moment liegt der Patient „Musikkultur“ in einer Art Wachkoma. Auf welchem Wege lässt sich Ihrer Meinung nach dieser Zustand beenden?
Es wird wahrscheinlich eine langsame Aufwachphase geben, mit vielen Kompromissen und hoffentlich kreativen Lösungen auf Seiten der Künstler:innen, der Veranstalter und des Publikums. Aber ich würde da gerade ungerne irgendwelche Ratschläge geben, weil ich die aktuellen Risikoeinschätzungen dazu nicht gut genug kenne bzw. diese zum Teil widersprüchlich zu sein scheinen, beispielsweise was die Verbreitung des Virus durch Aerosole angeht. Einige Kulturschaffende fordern jetzt ja eine schnelle Öffnung des Konzert- und Opernbetriebs. Aber würden die es auch verantworten wollen, wenn sich dann bei einem Konzert, wie jetzt bei einem Gottesdienst in Frankfurt, Hunderte infizieren, von denen einige womöglich noch zur Risikogruppe gehören? Und was würde so ein Fall bedeuten für die zukünftige Bereitschaft des Publikums, in Konzerte zu gehen? Andererseits: Wenn jetzt noch monatelang nichts stattfindet – so groß können Rettungsschirme gar nicht sein, dass man vor allem alle solo-selbständigen Künstler:innen und freien Ensembles auffängt. Ich hoffe, dass auch nach Corona die ökonomistischen Kahlschlagphantasien der Autoren des »Kulturinfarkts« nicht Realität werden.
Welche Folgeschäden befürchten Sie?
Die ohnehin schon prekäre Situation und soziale Absicherung vieler freischaffender Künstler:innen verstärkt sich gerade weiter, auch, weil einige jetzt notgedrungen auf ihre Rücklagen zurückgreifen müssen. Ich glaube auch nicht, dass alle jüngeren Ensembles oder Kammermusikformationen die Krise überleben werden. Im Corona-Stresstest zeigt sich die Fragilität der so oft beschworenen ›exzellenten Orchesterlandschaft‹ in Deutschland. Vielen wird das erste Mal bewusst, dass es eine Zweiklassengesellschaft zwischen ›Freien‹ und ›öffentlich Finanzierten‹ gibt, dass die Vielfalt mit dem Deal ›Freiheit gegen Prekariat‹ erkauft ist.
Sehen Sie auch Chancen und wenn, welche?
Ja, es entwickelt sich eine größere ästhetische Innovationsbereitschaft und Professionalisierung was digitale Formate angeht, vielleicht schlägt jetzt auch die Stunde kleiner Konzertformate mit interessantem kammermusikalischem Repertoire. Das gestiegene Bewusstsein für die Lebensrealität freischaffender Künstler:innen bei Politiker:innen und Medien kann auch eine Chance sein, das System zu reformieren. Wie kann die freie Szene besser gegen Krisen abgesichert werden, zum Beispiel über eine Anpassung des Zuwendungsrechts, damit auch die Bildung von Rücklagen und unternehmerisches Handeln möglich werden? Alle fordern jetzt unisono mehr Geld vom Staat. Aber darüber, wie das eigentlich verteilt wird, wurde auch vor Corona schon zu wenig gestritten. Ist die Förderpolitik nicht zu oft zu Leuchtturm-fixiert? Sind öffentlich finanzierte Institutionen zu oft Gatekeeper und verzerren den Wettbewerb? ›Wir sind systemrelevant‹, sagen jetzt viele Kulturschaffende. Abgesehen davon, dass der Begriff wenig taugt, fehlen mir ein bisschen die Visionen auf die Frage, in welchem System man überhaupt arbeiten möchte.
Haben Sie schon eine Idee, wie die Zeit im Bereich der E-Musik nach der Bewältigung dieser Pandemie aussieht?
Ich glaube, es wird in ästhetischer Hinsicht kurz- und mittelfristig mainstreamiger, konservativer, weil viele auf Nummer sicher gehen wollen und müssen, und noch mehr als ohnehin schon auf die Auslastung schielen. Es wird auch viel Pioniergeist verloren gehen. Wer gründet in diesen Zeiten schon ein neues Ensemble oder eine Veranstaltungsreihe? Für viele junge Musiker:innen wird es noch schwerer werden, bei einer seriösen Agentur unterzukommen. Die virtuelle Selbstdarstellung und Selbstvermarktung wird daher noch wichtiger, um in der Aufmerksamkeitsökonomie wahrgenommen zu werden. Andererseits wird das ganze ›höher, schneller, weiter‹ des Klassik Jet-Sets, das sich zunehmend hohl gedreht hatte, nach Corona auf den Prüfstand kommen: Wie könnte ein nachhaltigerer Konzertbetrieb aussehen? Macht es Sinn, dass mittlerweile jedes mittelgroße Orchester eine Asientournee macht? Wie kann man eine lokalere Musikkultur gestalten, ohne provinziell zu sein? Die Antworten darauf können auch eine Chance bieten, sich jenseits von Marketing-Gags wieder auf das zu besinnen, was wirklich Substanz hat.
Wird die Situation auf Folgen für den Musikjournalismus haben und wenn ja, haben Sie Vermutungen welche das sein könnten? Wird sich was ändern, sollte sich was ändern? Haben Sie da Szenarien im Kopf?
Im Grunde lässt sich vieles auf den Journalismus übertragen: die prekäre Bezahlung und fehlende soziale Absicherung insbesondere freier Journalist:innen, viele (Musik-)Magazine, die schon vor Corona zu kämpfen hatten, stehen jetzt vor dem Aus … Nur dass Staatshilfen für private Medien, wie sie gerade diskutiert werden, problematisch sind, weil dadurch die unabhängige Berichterstattung und Trennung zwischen Staat und privater Presse gefährdet werden. Auch die Klassikkultur braucht Medien, die hinter die Fassaden schauen, auch Abseitiges und Übersehenes in den Blick rücken, genau recherchieren. Ich hoffe daher, dass die Bereitschaft der Leser:innen, für guten Journalismus Geld auszugeben, nicht nachlässt. Sonst bleiben wir am Ende nur mit Marketing-Blättern zurück.
Aktuell scheinen ja Podcasts Konjunktur zu haben? Welche Chancen sehen Sie da, gibt es bald auch von VAN einen Podcast – vielleicht aus Bielefeld?
Wir haben Ideen für ein paar Formate. Ich hoffe, dass wir mindestens eine davon in den nächsten Wochen an den Start bringen.
Weiterführende Informationen: VAN Magazin