Kürzlich ist einer der bekanntesten Entertainer der deutschen Fernsehgeschichte gestorben: Alfred Biolek. In den späten 70er-Jahren konnte er in 30 Sendungen zwischen 1978 und 1982, über also vier Jahre, im Abstand von zwei Monaten seine Show „Bio‘s Bahnhof“ für das Fernsehen der ARD produzieren.
Manche*r erinnert sich: Das war eine Zeit, in der man gerade mal drei Fernsehprogramme zur Auswahl hatte. ARD, ZDF und die Dritten Programme, je nach Lage auch noch Programme aus den Nachbarländern der Bundesrepublik Deutschland. Fernsehplatz war kostbar und doch war man großzügig und hatte durchaus Platz für Leerlauf in der Nacht. Ein Begriff wie „Nischenprogramm“ ergab eigentlich keinen Sinn. Fernsehen selbst war die Nische für alle. Kaum jemand hatte das damals so gut begriffen wie jener Alfred Biolek, der mit seiner Redaktion zahlreichen Musiker*innen und Künstler*innen eine – zudem – erste Plattform bot, sich einem größeren (deutschen) Publikum vorzustellen.
So trafen beispielsweise in der Sendung vom 20. November 1980 Juliette Greco, Pfuri, Gorps & Kniri, Iannis Xenakis (genauer gesagt die „Les Percussions de Strasbourg“), Karl Vibach und das Ensemble „A Chorus Line“ vom Theater des Westens aufeinander. In anderen Sendungen hatten die „Maulwerker“ mit Musik von Dieter Schnebel, die „Paper Music“ von Josef Anton Riedl, Kagel mit Kontarsky, Marcia Haydée oder Karlheinz Stockhausen jeweils Auftritte, wo sonst auch Al Jarreau, Sting, Kate Bush oder Helen Schneider ihren Platz fanden. Fast das ganze göttliche Irrenhaus der Musikkulturen war hier zu hören, zu sehen und wurde gegebenenfalls zum Interview gebeten – live und ohne doppelten Boden.
Gewiss war Fernsehen damals ein Ereignis und sorgte für Unterhaltungen am Tag danach. Wie verschwenderisch war man damals eigentlich, wie sehr hat man sich auf Überraschungen eingelassen.
Das „Überraschende“ ist offenbar heute das, was es in der Fernsehunterhaltung auszuschalten gilt. Es lässt sich schließlich nicht programmieren und bewerben, es muss schon extra provoziert und künstlich erzeugt werden. So etwas bekommt man heute vor allem in auf Krawall angelegten Talkshows mit ihrem Aufregungs- aber kaum noch Anregungstechniken. Dazwischen gab es sehr wohl noch Phasen des Glücks in Fernsehunterhaltungen: Ob bei Harald Schmidt, Roger Willemsen oder bei „Zimmer frei“ mit Götz Alsmann und Christine Westermann – ja selbst noch bei den Muppets mit hochkarätigen Jazzmusikern – vorbei. Das höchste der Gefühle scheint aktuell der Besuch des Pianisten Igor Levit im Kulturmagazin des ZDF „Aspekte“ zu sein, dessen Restfarbigkeit nach Abschiebung noch hinter Böhmermanns flügellahm gewordenen anarchistischem Magazin am Freitag auf vorproduziertem GALA-Niveau mit Hintertreppeninterviews das Publikum und die Kunst ins Abseits ausschleicht – und für das es nicht einmal ein gescheiten Hashtag gibt.
Kultur und Kulturpolitik sind so gut wie endgültig aus dem ehemaligen Leitmedium Fernsehen vertrieben. Ein Restspuk fällt auf durch Sprachviagra hocherregte Literatursendungen, sogenannte Klassikevents zweifelhafter Herkunft (wie den in private Hand gegebenen Nachfolger der Musikindustrie ECHO alias OPA/OMA/OPUS KLASSIK oder eben Aufzeichnungen oder Liveübertragungen von (Musik-)Theaterstücken.
Das hat nichts mit einem weinerlich-peinlichen Anfall auf die angeblich so guten alten Zeiten und einem „Früher-war-alles-besser“-Gejammere zu tun. Es hat damit zu tun, dass die Gesellschaft sich immer mehr in individuell optimierte Spezialangebote für Spezialpublika aufteilt, bei der man immer besser die Einzelnen erreichen kann, was an sich ein ganz wunderbarer Gedanke wäre. Leider hat es zugleich auch zur Folge, dass die Einzelnen immer mehr zugleich vereinzeln und die Bögen zueinander nicht mehr finden. Die Pandemie hat dies durch ihre Maßnahmen abermals verstärkt. Die Programmmacher*innen feiern das zugleich als „Angebotsoptimierung“, bei der niemandem vorgeschrieben wird, welchen Herausforderungen jemand ausgesetzt wird. „Einsame Masse“ nannte das 1950 der amerikanische Soziologe David Riesman.
So blubbern nun alle in ihren Blasen, die Algorithmen für sie finden dahin (wenn Sie das mögen, mögen Sie vielleicht auch das, was genau so ist, nur anders heißt), statt den Blick für Neues und Anderes zu öffnen. Geschmacksversteifungen sind die Folge, Einengung von Denken und Fühlen; im Namen der Freiheit schließt man die Menschen in ihren jeweiligen ästhetischen Gebrauchsformen ein. So wird man im – oder vielleicht sogar „ohne“ – Zweifel von einem Fan zum Fanatiker verbogen. Eine bittere Dialektik in Aktion! – die Programm-Pilatussis und -tussers waschen ihre Hände in digital ausgebleichtem Fastfood von Quoten-Umfrage-Schafotten, unterstützt von McKinski-Instituten und untersülzt von sogenannter empirischer Ästhetik.
Die Menschen werden nicht zuletzt auch deshalb müde, weil man sie haltungs- und führungslos zur stereotypen Einheitssauce im Namen der Wertfreiheit und ästhetischen Unschuld an den Handschellen des kontrollierten Geschmacks abführt. Es ist sicher eher kein Zufall, dass in der ARD-Mediathek Sendungen wie „Bio’s Bahnhof“ überhaupt nicht aufzufinden sind. Selbst die in das Programm gehobene Erinnerungssendung mit Anke Engelke und Hape Kerkeling, im Gespräch mit Alfred Biolek, wurde nach Ausstrahlung offenbar in den Giftschrank des Unsendbaren gelegt.
Zuerst erschienen in nmz Ausgabe: 9/2021 – 70. Jahrgang