Was waren das für schöne Zeiten, als man noch die Kulturindustrie samt ihres kapitalistischen Unterbaus einfach mal so in einem Nebensatz als Ausbeutung von Menschen und ihre Manipulation wegbuttern konnte. Massenkultur war die perfekte Verdummungsmaschine. Es wurde nämlich zeitgleich dem unendlichen Wirtschaftswachstum gefrönt, an dessen Errungenschaften wir alle immer noch partizipieren – obwohl, ja, präziser, partyzipieren, wenn auch unglücklich: Teflonpfanne, Mähroboter, 278 Fernsehprogramme terrestrisch und das permanente Internet mit seinem (Des-)Informationstsunami.
Das alles hat uns so klug werden lassen, dass wir alle bestens informiert sind und vor lauter Glück nach neuem Unglück suchen müssen. Da hat sich unterdessen eine Art Moralindustrie entwickelt, die in bewährter Form als Mob und Zensuragentur über alles herfällt, was nicht bis 18 Uhr Kant gelesen hat. Aktuell wird kulturelle Aneignung als Ausbeutungsform in Stellung gebracht – Schminken, frisieren, tätowieren, piercen, außerindische Tonskalen …. so wie jüngst bei den Attacken auf eine Krenek-Opern-Inszenierung in München trotz kritischer Blackfacing-Aktion in Form eines wild um sich zwitschernden Twitterhypermoralmobs oder in Hannover bei der Auftrittsausladung einer weißen Künstlerin mit Dreadlocks durch die Veranstalter von Fridays For Future wegen „kultureller Aneignung“, die sich bei der Gelegenheit gleich die gesamte Kulturgeschichte verfilzter Haare aneignet. Die Ankläger*innen sind dabei Ermittler*innen, Staatsanwält*innen und Richter*in in einer Person und glauben sich umfassend mandatiert. Daher steht das Urteil sowieso fest. Eine Tabuwand wird neben der nächsten errichtet.
Dabei wird neben den Menschen natürlich auch Kunst moralisch eingemauert; jedenfalls so lange, bis Kunst und Kultur gezähmt wären und damit passé. Das Irre dabei: dabei entsteht eine Moralindustrie, die vielfach das Ergebnis einer Jugendbewegung ist, der man nach ihren eigenen Worten die Zukunft klaut. Aber ihre Reaktion ist die gleiche, wie die der kleptokratischen Gerontokrat*innen und Kapitalist*innen alter Schule: Sie vernichten die Gegenwart, nur statt als Diebe im Büßerhemd.
Als es hieß, man wolle mit 100 Milliarden Euro in Deutschland die Sicherheit des Landes stärken, keimte kurz die Hoffnung auf, dass es sich um Ausgaben in Sachen Kultur und Bildung handeln würde. Irrtum: Stattdessen kürzt man. In Berlin wird das nachhaltige und innovative Projekt mit dem Namen „Querklang“ auf Null gesetzt. Statt Investitionen in Sachen Denken und Wahrnehmen, in Sachen Kooperieren und Experimentieren, in Richtung Frieden und Leben-nicht-als-Strafe-empfinden, in Sache Natur- und Menschenpflege, setzt man auf Waffensysteme. Kultur aber muss gelebt werden dürfen und darf nicht verhindert oder vernichtet werden. Das gilt für Menschen insgesamt: Leben in Frieden und ohne Angst.
- Zuerst erschienen in nmz Ausgabe: 4/2022 – 71. Jahrgang